Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen. Kurt Aram

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Wie soll der arme Pristavstellvertreter nun die Wahrheit über mich erfahren, da mich niemand genauer kennt? Er kommt also direkt zu mir, dass ich sie ihm sage. Die Frau des jüngeren Sohnes vom Haus kommt mit, um den Dolmetsch spielen. Der Polizist bittet die Dame, da er nicht federgewandt sei, für ihn das Protokoll zu schreiben. Das geschieht, und die Dame nimmt zu Protokoll, dass ich politisch durchaus unverdächtig sei, nie im Zuchthaus gesessen habe und darum bäte, als nicht militärpflichtig und Mann von 45 Jahren ins Ausland abreisen zu dürfen. Dazu kommt dann noch das Gewohnte von früheren Protokollen her über meine archäologisch-chetitischen Interessen. Die Arbeit dauert anderthalb Stunden. Der Polizist sitzt zufrieden auf seinem Stuhl und raucht, meine Frau und ich sitzen um ihn herum und versorgen ihn immer wieder mit neuen Zigaretten. Die Dame des Hauses schreibt. Das Protokoll ist fertig. Aber es braucht nun noch drei Zeugen, die die Wahrheit der Aussagen durch ihre Unterschrift beglaubigen sollen. Woher nehmen? Wir holen einen Kellner aus dem Restaurant und zwei x-beliebige Leute von der Straße, die für zwei Rubel als Zeugen fungieren. Als somit alles in schönster Ordnung ist, fragt mich der Polizist nach dem jungen österreichisch-polnischen Privatdozenten aus. Ich weiß nichts und habe nichts über ihn zu berichten. Der Polizist will das nicht glauben. Er holt die Pässe von mir und meiner Frau hervor, die mit dem Pass des polnischen Ehepaars zusammengeheftet sind. Für ihn ein Beweis, dass die Behörde uns ebenfalls für gute Bekannte hält. Ich habe aber nichts über den Mann zu sagen, dem die Polizei erlaubt hat, sich in der Stadt eine billigere Wohnung zu nehmen, während sie mich zwingt, in dem teuren Hotel zu bleiben und vom Pump zu leben. Da wir nichts miteinander zu tun haben, bitte ich den Polizisten, das auch äußerlich dadurch kenntlich zu machen, dass er die Pässe voneinander trennt. Aber er tut es nicht...

      Wieder einmal wird es Nacht. Um diese Zeit pflegen sonst die wahren Patrioten mit dem Bild des Zaren durch die Straßen zu ziehen und die Nationalhymne zu singen. Seit einigen Tagen hört man sie nicht mehr. Der Statthalter hat es verboten. Die patriotische Manifestation machte auch einen gar zu kläglichen Eindruck. Auf mehr als fünfzig bis achtzig Bürschchen brachte sie es nie. Und die Zahl des lichtscheuen Gesindels wurde immer größer unter ihnen. Sie wollten nicht nur singen, sondern vor allem die deutschen Läden plündern. Aber man fürchtet, dass diese Analphabeten dabei auch französische Läden nicht würden schonen. Und so verbot man denn die Manifestationen überhaupt. Sicher ist sicher.

       Überhaupt ist das mit dem russischen Patriotismus in Transkaukasien so eine Sache. Die Russen sind in der Minderheit. Den Grusinern ist durchaus nicht zu trauen, wie sie bei der Revolution 1904/05 deutlich genug gezeigt haben. Die Armenier gebärden sich zwar als russische Überpatrioten, aber misstrauisch ist man auch ihnen gegenüber. Lieber gar keine patriotischen Manifestationen, als so klägliche, worüber die Grusiner längst lachen. Sonst kommen sie am Ende mit Gegenmanifestationen, und die russischen Behörden stecken, ehe sie sich dessen versehen, wieder mitten in einer Revolution. Die ganze mohammedanische Bevölkerung ist sowieso erregt, und man kann sich nicht auf sie verlassen. Der Kaukasus ist ein heißer Boden für russische Füße. Vorsicht ist geboten. Nur gegen die Jagd auf Deutsche ist nichts einzuwenden. Irgendwie muss sich doch der Patriotismus der echt russischen Leute Luft machen. Auch der Gouverneur hat es nötig, sich durch Gemeinheiten gegen die Deutschen als guter Patriot zu erweisen. Er ist Pole, hasst die Deutschen und hat es nicht schwer, sich von der besten russischen Seite zu zeigen. Der alte, grämliche, kränkliche Statthalter aber wäscht nach alterprobtem Rezept seine Hände in Unschuld. Er ist alt, er ist krank, er kann sich nicht kümmern um das, was der Gouverneur macht, dem er das Ressort über die Deutschen übertragen hat. Der arme kranke Mann!

      Mitten in der Nacht fahren wir beide jäh in die Höhe und lauschen. Was ist das? Wildes Schreien, Säbelrasseln und Schießen in nächster Nähe. Ich springe auf den Gang. In dem kleinen Hotelgarten eine Menge Offiziere, die brüllen, wild um sich stechen und mit den Pistolen schießen. Wir dachten nicht anders, als dass unser letztes Stündlein jetzt gekommen sei. Eine halbe Stunde dauerte der Lärm. Dann schweres Stöhnen und Ruhe ... Russische Offiziere hatten ein Sektgelage abgehalten. Eine Maus war ihnen über die Füße gelaufen. Ihr galt die wilde Jagd durch das Hotel und seinen Garten, die erst aufhörte, als einer der Offiziere die Kugel eines Kameraden im Leibe hatte. Ob die Maus ebenfalls gefällt wurde, weiß ich nicht.

      Wieder Mittag, wieder 45 Grad Hitze, wieder starren wir auf die Nikolaibrücke. Wieder erscheint ein Polizist, diesmal der Reviervorsteher in eigener Person, ein höchst widerwärtiger Mensch mit stechenden Augen, die uns am liebsten an die Wand spießten. Wieder ein Protokoll, das vierte. Dann plötzlich die Frage: „Sie sind also um die russische Untertanschaft eingekommen?“ Ich traue meinen Ohren nicht. „Das muss ein Irrtum sein. Ich denke nicht daran, den russischen Staat so zu beleidigen.“

       Der Pristav zieht einen Bogen hervor, in den unsere Pässe eingeheftet sind. „Hier steht es“, sagt er wütend.

      Außer unseren Pässen bemerke ich jetzt auch den österreichischen Pass des Polen, und nun geht mir ein Licht auf. Dieser kleine Privatdozent mit der goldenen Brille wollte ja Russe werden, wie er mir selbst erzählt hat. Also nimmt man an, dass ich es ebenfalls werden wolle, da unsere Pässe nun einmal unzertrennlich sind. Ich sage das dem Pristav, und er packt die Papiere wieder zusammen und protokolliert.

       „Wo sind die drei Zeugen zur Unterschrift des Protokolls?“ fährt er mich an. Was geht das mich an? Ich bin auf seinen Besuch nicht vorbereitet. Das ist seine Sache. Er läuft aufgeregt durchs Zimmer und sucht nach einem Ausweg. Ich bin ihm aber nicht behilflich. Der Kerl ist mir zu widerwärtig. Er kocht innerlich, denn er muss ein andermal wiederkommen und wieder ein neues Protokoll machen, und es ist so heiß, und die Rjemez machen einem überhaupt so viel Scherereien, die Hunde ... Ich lasse ihn ruhig toben. Ich habe Zeit. Er stürzt aus der Tür und erscheint nach einiger Zeit wieder mit einem Kellner, einem Laufburschen und dem Zimmermädchen. Die beiden Männer sind Grusiner und können kaum Russisch. Angelesen unterschreiben sie mit kaum leserlichen Krakelfüßen, wie der Pristav ihnen befiehlt. Das russische Gesetz verlangt, dass drei männliche Zeugen so ein Protokoll unterschreiben. Der dritte Zeuge ist aber ein Zimmermädchen, also gewiss kein Mann. Nun, sie darf von ihrem Vornamen nur den Anfangsbuchstaben unter das Protokoll setzen. Wer will dann der Unterschrift noch ansehen, welchen Geschlechtes der Zeuge ist? ...

      Es wird wieder einmal Abend. Ein russischer Herr lässt sich bei mir anmelden und ist überaus höflich und zuvorkommend. Besonders gegen meine Frau, mit der er Englisch spricht. Mit mir unterhält er sich französisch. Aber er wendet sich allmählich immer ausschließlicher an meine Frau, überaus liebenswürdig und charmant, und versucht, sie über mich auszufragen. Nun, das gelingt ihm nicht. Wir kennen nachgerade alle beide unser Sprüchlein auswendig, und wenn man uns mitten in der Nacht weckte, würden wir uns nicht versprechen. Da er merkt, dass hier nichts zu machen ist, wendet er sich wieder mir zu und interessiert sich sehr für Archäologie.

       „Hören Sie, Herr Professor“, so nennt er mich jetzt in dem Glauben, das werde mir Eindruck machen, „ich habe einen Freund, der ist leidenschaftlicher Archäologe. Er ist speziell für die Chetiter interessiert. Würden Sie ihm die Freude machen, ihn zu besuchen?“

      „Sehr gerne. Nur muss ich Sie leider darauf aufmerksam machen, dass ich das Hotel nicht verlassen darf.“

      „Mein Freund gehört zum Generalstab. Er ist Adjutant des Statthalters. Er hat Ihnen schon die Erlaubnis erwirkt, ihn besuchen zu dürfen. Wenn es Ihnen recht ist, fahren wir gleich zu ihm.“

      Ich mache mich fertig für den Ausgang. Unser Zimmer ist durch einen Vorhang in zwei Teile geteilt. In der vorderen Hälfte wohnen wir, in der hinteren ist das Schlafzimmer.

       Ich hole mir den Sommerüberzieher aus dem Schlafzimmer, und meine Frau flüstert mir zu, ob sie die Papiere vernichten soll? Ich habe ein Empfehlungsschreiben des türkischen Botschafters in Berlin an die türkischen Zoll- und Polizeibehörden bei mir. Ich habe allerhand andere türkische Empfehlungsbriefe aus Konstantinopel für die türkische Provinz. Ich bitte meine Frau, das nicht zu vernichten. Kommen die Türken nach Tiflis, wie ich immer noch hoffe, können uns die Empfehlungen noch gute Dienste leisten. Will die russische Behörde aber etwas Ernstliches gegen mich unternehmen, dann kommt es auch nicht mehr darauf an, ob diese Papiere da sind oder nicht. Die Hauptsache ist: ruhiges Blut.

      Der


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