Wir denken an..... Heinrich Jordis-Lohausen

Wir denken an.... - Heinrich Jordis-Lohausen


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mehr weicht ihr tieferer Sinn vor seinen Augen zurück und je stärker treibt es ihn, sein Christentum in Werken greifbarer Nächstenliebe zu erproben. So wenig wie das Geld, so wenig – weiß er nun – können Wissenschaft und Buchstabe den Menschen Erlösung bringen. Und nach wenigen Semestern verlässt Van Gogh die Universität und sucht einen neuen Weg.

      Im Jahre 1879 taucht in den Kohlengruben der Borinage in Belgien ein gänzlich unbekannter junger Geistlicher auf und beginnt den in Armut und Not völlig abgestumpften Arbeitern das Evangelium zu predigen.

      Sie lehnen ihn zuerst ab, wie sie noch jeden abgelehnt haben, der zu ihnen gekommen war, um sie mit Worten abzuspeisen. Als sich der eigentümliche Prediger jedoch ganz unter ihnen niederlässt, um als einer der Ihren mit ihnen zu leben und alle Armseligkeiten ihres freudlosen Daseins mit ihnen zu teilen, ändern sie allmählich ihr bisheriges Verhalten und schenken dem einsamen, immer hilfreichen Mann ihr Vertrauen.

      Bald jedoch muss Van Gogh begreifen, dass dieses Vertrauen immer nur ihm persönlich zugestanden bleibt, – und dass es ihm inmitten solchen Elends niemals gelingen wird, diese persönlichen Zugeständnisse in einen allgemeinen Glauben an das Gute und an die göttliche Berufung des Menschen zu verwandeln. Zu sehr wird - was immer er ihnen zu sagen hat – durch die Tatsachen ihrer Umwelt widerlegt.

      Und schließlich muss Van Gogh, trotz der Zuneigung, die ihn umgibt, an seiner Gabe verzweifeln, den Menschen durch das Wort und die Religion eine wirksame Hilfe zu bringen. Krank und erschüttert kehrt er in sein Elternhaus zurück. Diese Rückkehr ist ein völliger Zusammenbruch und doch bezeichnet sie die entscheidende Wendung seines Lebens.

      Bereits in der Borinage hatte Van Gogh zu zeichnen begonnen. Und es war ihm mehr und mehr zur Gewohnheit geworden, sich über das, was er sah und was er erlebte, mit Stift und Kohle Rechenschaft zu geben.

      Vielleicht lag schon damals auf dem unbewussten Grunde solchen Tuns der leidenschaftliche Wunsch, der Welt in Bildern wiederzugeben, was sie in Worten zurückgewiesen hatte. Vielleicht wollte er irgendetwas von seinen Misserfolgen in den Bergwerken mitbringen, das blieb und das sich nicht wieder verflüchtigte, wie die Wirkung seiner Predigten – etwas, woran er anknüpfen könnte, wenn er ein weiteres Mal ausziehen sollte, den Menschen in ihrer Bedrängnis beizustehen. Was immer auch die Beweggründe gewesen sein mögen – das Erlebnis der Kohlengruben brachte die Wandlung. Und der Mann, der kein Priester mehr sein wollte, weil ihm die Gnade, zu lehren, versagt worden war, kam zurück, um nur noch als Maler zu leben.

      Er ist kaum 28 Jahre alt und ein blutiger Dilettant… Das Missverhältnis zwischen Wollen und Können ist ungeheuer. Und es scheint nichts vorhanden, ihm den Weg zu seinem neugewählten Ziel zu erleichtern.

      Keine Spur von dem, was man gemeinhin Talent nennt, keine Leichtigkeit, kein Ausdruck! Nur Ernst, Schwere und Ungeschicklichkeit. Und das Ergebnis der ersten Studienjahre ist Banalität und Kitsch.

      Schließlich erhielt Van Gogh von seinem Bruder Theodor die Mittel, sich im Haag ein kleines Atelier zu mieten. Dort ist er mit sich und den großen Holländern des 17. Jahrhunderts allein. Und es scheint, als hätten die alten stummen Vorbilder dem jungen Landsmann schließlich den Schlüssel in die Hand gegeben, sein eigenes Wesen zu offenbaren. Und nun entstehen Bilder, die in ihrer Ausdruckskraft nahezu Meisterwerke sind. Die besten von ihnen sind Stillleben. Zwar sind sie von betonter Sachlichkeit und entbehren fast gänzlich der Farbe.

      Oft bedeckten nur ein paar schmutzig-braune Kartoffeln die Leinwand. Aber diese gewöhnlichen, hässlichen Kartoffeln sprechen eine viel eindringlichere Sprache, als so manches berühmte menschliche Porträt von der Hand gefeierter Modemaler. Genauer gesagt: sie sprechen die Sprache der Borinage. Ihre befremdliche Ausdruckskraft bestätigt den Daseinsanspruch aller Armseligen, Missachteten und Enterbten.

      Trotzdem, eine derart ausschließliche auf düstere Armut gegründete Malweise kann auf die Dauer weder ihn noch andere befriedigen. Eines Tages muss die Sucht nach äußerster Beschränkung der Ausdrucksmittel in ein ebenso heftiges Verlangen nach Überfluss, ja Verschwendung umschlagen – eines Tages muss Van Gogh auch die bisher so stark empfundene soziale Motivierung seiner Einseitigkeit fragwürdig erscheinen: Hilft es den Armen und Verfolgten irgendwo in der Welt, wenn man ihnen die graue Armseligkeit ihrer täglichen Umgebung nochmals in schmutzig-getönten Bildern entgegenhält? Müssten nicht eher Kaskaden von Licht ihre verloschenen Erinnerungen an die Schönheiten der Welt zurückrufen?

      Schließlich, im Jahre 1885, flieht Van Gogh aus der Wirrnis solcher Fragen nach Paris. Und von da an wird seine Malerei zu einer einzigen Verherrlichung der Farbe.

      Aber wieder dauert es Jahre. Wieder muss der schon so oft im Leben Gestrandete von vorn beginnen. Was er bis jetzt erkämpft hat, ist zu verschieden von dem, was er nunmehr erstrebt, um daran auch nur anzuknüpfen.

      Er begreift: ohne Auseinandersetzung mit der modernen französischen Malerei gibt es kein Weiterkommen. Er stürzt sich mit der gleichen verbissenen Gründlichkeit in das Studium der neuen, vom Impressionismus geschaffene Malkultur, mit der er sich zwei oder drei Jahre zuvor auf die alten Meister gestürzt hat.

      Dann allerdings vermag ihn die technische Überlegenheit seiner Pariser Kollegen nicht mehr zu blenden, im Gegenteil: ihr ewiggleiches Weiß-Grau-Licht beginnt ihn zu langweilen. Ihre Helle erscheint ihm eines Tages als seichter, hässlicher Atelierston. Ihre ganze Art als zu flach, zu geistreich und zu städtisch, und viel zu viel Technik, um der reinen Technik willen.

      Van Gogh will nicht nur „Technik“. Er will tiefer als all diese glänzenden Franzosen. Er will auf den Grund der Malerei, um die reinen, unvermischten Farben aus dem Schlamm der Jahrhunderte an die Oberfläche zu tragen: s i e sind die Offenbarung, die er sucht. Etwas Letztes und Unmittelbares… Er spricht mit ihnen wie mit Göttern. Und die Dialoge, die er zwischen ihnen entzündet, werden zum Eigentlichen und Unaussprechlichen seiner letzten und reifsten Bilder. Van Gogh hasst die Großstadt und verabscheut Paris mit der Inbrunst eines ganz und gar auf das Einfache und Wesentliche gestimmte Menschen. Und wie der unbändige Gauguin nach den Inseln der Südsee, so flieht Van Gogh in das fast afrikanisch anmutende Frankreich der westlichen Provence – in die heiße, farbensatte, vom Mistral überwehte Ebene von Arles. Zwei Jahre lang hat er in Paris gelernt. Jetzt endlich fühlt er sich reif genug, um ganz aus sich selbst zu schaffen. Und er malt mit einer sich qualvoll überstürzenden Fruchtbarkeit, als wüsste er, dass ihm nur mehr drei Jahre vergönnt sein werden, um sein Werk zu vollenden.

      Endlich bedarf es keiner Vorbilder, keiner Lehrer und keiner Technik mehr, endlich ist er frei. Und er kümmert sich wenig darum, ob seine Bilder Anklang finden werden oder nicht. „Ich verfolge kein System beim Malen, ich haue auf die Leinwand mit regellosen Strichen und lasse sie stehen. Pastositäten – unbedeckte Stellen hie und da – ganz unfertige Ecken – Übermalungen – Brutalitäten, und das Resultat ist zu beunruhigend und zu verstimmend, als dass Leute, die auf Technik sehen, daran Gefallen finden können.“

      So schreibt er selbst und er denkt keinen Augenblick mehr daran, seine Bilder, diese unheimlichen, ausdrucksvollen Porträts, diese flammenden Stillleben und diese furchtbar lebendigen, von einer glühenden Sonne durchrasten Landschaften zu verkaufen. Er schenkt sie denen, die sich ihnen verwandt fühlen, und lebt lieber selbst in größter Armut, als sie für Geld zu verschleudern.

      Der Öffentlichkeit bleibt er verborgen. Niemals dringt eine Nachricht über ihn in die Presse. Kein Kunsthändler, außer einem Pariser Freund, dem alten Tanguy, kennt seinen Namen. Nein, die Welt schweigt von dem verrückten Holländer in Arles, und er ist schon zehn Jahre lang tot, als seine Bilder allmählich hervorgeholt und von einigen wenigen Kennern in Frankreich und Deutschland bestaunt und gewürdigt werden.

      Und auch das ist beinahe ein Zufall. Und nur der Verdienst einer einzigen Zeitschrift, des „Mercure de France“. Erst später bemächtigen sich seiner die unvermeidlichen Snobs aus dem internationalen Kunstmarkt und verbreiten seinen Namen in weitere Kreise.

      Am 28. Juli 1890 hat Van Gogh in seiner Heilanstalt in Auvers-sur-Oise bei Val-mondois sein von zunehmender Geisteskrankheit bedrohtes Leben freiwillig ausgelöscht. Als ihn sein Arzt mit der Kugel im Leib auffindet und ihm die überflüssige Frage nach dem Sinn seiner Tat vorlegt, zuckt der Sterbende stumm die Achseln. Er mag


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