Einer meiner Söhne. Anna Katharine Green
fragte er. Er muß sofort und auf alle Fälle kommen. Herr Gillespie darf nicht angerührt werden, bevor er da ist.
Doktor Bennett war offenbar der Hausarzt.
Warum darf er nicht angerührt werden? fragte einer der Herren, die neben mir standen. Ist irgend was nicht in Ordnung? Herr Gillespie war vor ungefähr einem Monat schwer krank. Wahrscheinlich ist er zu früh wieder aufgestanden!
Aber der junge Arzt antwortete nicht, sondern ging in das kleine Zimmer zurück. Wir alle hätten ihn gerne noch näher befragt, aber nur wenige von uns murmelten ein paar Worte, worauf kein Bescheid erfolgte. Einer von den jungen Herren entfernte sich eilig, um dem von seinem Freund soeben ausgesprochenen Wunsche Folge zu leisten.
Lebt Frau Gillespie noch? fragte ich nach einigem Zögern meinen Bekannten.
Was für 'ne Frage! lautete die von einem verwunderten Blick begleitete Antwort. Sie ist ja schon volle fünfzehn Jahre tot!
Für seine Frau war also der Brief nicht bestimmt.
Plötzlich bemerkte ich, daß ein Auge mich scharf fixierte. Es war einer von den Dienern, die auf einen Klumpen zusammengedrängt auf der anderen Seite der Halle in einer offenen Tür standen, welche, wie es mir vorkam, in einen großen Speisesaal führte. Als der Mann sah, daß er meine Aufmerksamkeit erregt hatte, machte er mir ein kaum bemerkbares Zeichen. Ich glaubte seinem Wink folgen zu müssen, denn er war ein grauhaariger alter Mann. Kaum war ich bei ihm, so flüsterte er mir mit einem vertraulichen Lächeln zu:
Sie scheinen der einzige hier zu sein, der noch bei Besinnung ist. Lassen Sie sie nichts machen, bis der junge Herr Leighton Gillespie nach Hause kommt. Der ist der einzige in dieser Familie, der noch religiöse Grundsätze hat!
Ist er der Vater des kleinen Mädchens? fragte ich.
Der Mann nickte.
Nicht nur das, sondern auch ein guter Mann! setzte er mit Nachdruck hinzu. Ein sehr guter Mann!
War dies die aufrichtige Meinung des alten Dieners oder Spott? Ich hatte gehört, daß alle drei jungen Gillespies ihrem Vater unendliche Sorge bereitet hätten.
Ein tiefes Schweigen der Trauer hatte sich inzwischen in dem prachtvollen Hause verbreitet. In einem seltsamen Widerstreit der Gefühle – denn ich fühlte mich als Eindringling und zugleich als eine wichtige Person in dem Drama, das ich soeben miterlebt hatte – zog ich mich in einen möglichst stillen Winkel zurück und wartete wie die anderen auf die Ankunft des Hausarztes.
Endlich ertönte die Hausglocke. So gespannt war unsere Erwartung, daß wir alle sofort in Bewegung kamen, und ein paar von uns eilten auf die Haustür zu. Diese wurde jedoch bereits von dem grauhaarigen Diener mit jener mechanischen Pünktlichkeit geöffnet, die eine langjährige Gewohnheit zur zweiten Natur macht. In der ruhigen Verbeugung des gutgezogenen Dieners lag aber doch etwas, woraus wir sofort schließen konnten: der sehnlich Erwartete ist endlich da!
Ich hatte den Doktor Bennett mehr als einmal gesehen, niemals aber in solcher Aufregung wie in diesem Augenblick. Mochte diese Aufregung ihren Grund in der Plötzlichkeit der Mitteilung oder in einer anderen Ursache haben – genug, der alte erfahrene Arzt befand sich in ebensolcher Erregung wie wir selbst. Der junge Arzt erwartete ihn bereits auf der Schwelle der Hinterstube und zeigte ihm durch eine Handbewegung den Ort an, wo die Leiche lag. Ich bemerkte an Bennett ein seltsames Zögern, das in eigentümlichem Widerspruch stand zu der Hast, womit er der Handbewegung seines jungen Kollegen Folge leistete. Ich würde dies unter anderen Umständen Wohl kaum beobachtet haben, und ich bin sicher, daß keinem von den übrigen Anwesenden in dem Gehaben des Hausarztes auch nur das Geringste auffiel; aber mir war jeder noch so kleine Umstand merkwürdig, von dem ich annehmen konnte, daß er mir den Schlüssel zur Lösung des Rätsels bieten würde, in welches ich mich auf so sonderbare Art tief verstrickt sah.
Doktor Bennett verweilte einige Minuten bei dem Toten; die Tür der Hinterstube hatte der junge Arzt verschlossen, so daß sich außer den beiden Kollegen nur die jungen Gillespies im Sterbezimmer befanden. Dann trat der alte Arzt zu uns heraus. Augenblicklich erkannte ich an seinem Gesichtsausdruck, daß unsere oder vielmehr die von dem jungen Doktor ausgesprochenen Befürchtungen nicht unbegründet gewesen waren. Indessen war Bennett augenscheinlich bemüht, keinen unnötigen Alarm zu erregen und sagte in kühlem, berufsmäßigem Ton:
Ein trauriger Fall, meine Herren! Herr Gillespie hat eine zu große Dosis Chloral genommen. Wir müssen ihn liegen lassen, wo er ist, bis der Coroner In Amerika und England der Beamte, der bei verdächtigen Todesfällen die sofortige Untersuchung zu leiten hat. kommt.
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so hörte man aus dem Speisesaal einen schweren, seufzenden Atemzug und das Klirren von zerbrechendem Glas. Der grauhaarige alte Diener hatte ein Weinglas fallen lassen, das er gerade von dem Kaminsims fortzuräumen im Begriff war. Im Nu war Bennett an seiner Seite und fragte:
Was ist das?
Der Diener beugte sich nieder, um die Scherben aufzuheben und antwortete:
Nur das Glas, woraus Herr Gillespie trank. Er forderte vor einer halben Stunde ein Glas Wein. Ihre Worte haben mich erschreckt, Herr Doktor!
Er sah allerdings durchaus nicht erschrocken aus, aber alten Dienern, die lange in großen Häusern gewesen sind, ist ja freilich eine seltsame Unbeweglichkeit der Gesichtszüge eigentümlich.
Ich will diese Scherben an mich nehmen, sagte der Arzt, indem er sich neben dem Diener niederbeugte.
Der Mann zog sich zurück, und der Arzt las die Glasscherben zusammen. Sie waren alle trocken. Offenbar war das Glas ausgewischt worden.
Als Bennett den Speisesaal wieder verließ, musterte er mit einem scharfen aber nicht unfreundlichen Blick die Gruppe der jungen Leute, die sich in der offenen Tür drängten, und fragte:
Wer von Ihnen war bei Herrn Gillespies letzten Augenblicken zugegen?
Ich verbeugte mich. Ich befürchtete, daß er mich ausfragen würde, sah aber keine Möglichkeit, mich seinen Fragen zu entziehen. Hätte doch der alte Gillespie das eine Wort noch hervorbringen können, das mich von aller Verantwortlichkeit in dieser Angelegenheit würde entbunden haben!
Sie sind der Herr, der von Herrn Gillespies Enkelin ins Haus gerufen wurde? fragte der Doktor.
Ja, antwortete ich. Hierauf erzählte ich meine Erlebnisse einfach und sachlich, wie die Umstände es erforderten. Nur von dem Brief, der mir zur Aushändigung an eine unbekannte Person anvertraut worden war, von diesem Brief sagte ich nichts. Wie hätte ich auch anders handeln können? Auf Herrn Gillespies Gesicht war nicht das geringste Zeichen der Bejahung zu lesen gewesen, als ich ihn fragte, ob der Brief für seinen Arzt bestimmt sei.
Mein Bericht schien den Arzt in der Ansicht zu bestärken, die er sich durch die Untersuchung der Leiche bereits gebildet haben mußte. Er führte die vor dem Kamin des Speisesaals aufgelesenen Glasstücke an seine Nase und beroch sie lange und sorgfältig. Die beiden jungen Gillespies sahen ihm immer erstaunter zu. Als Doktor Bennett die Scherben wieder hinlegte, konnten wir alle kaum unsere Neugierde zurückdrängen.
Sie haben uns irgend etwas Furchtbares mitzuteilen, murmelte der ältere Sohn.
Der Doktor zauderte mit der Antwort; er ließ den Blick vom einen zu dem anderen der beiden hübschen Gesichter wandern und versetzte endlich:
Ihr Bruder ist nicht hier. Wissen Sie vielleicht, ob er bald nach Hause kommen wird?
Wo ist mein Bruder Leighton? fragte Alfred, zu den Dienstboten gewandt. Ich glaubte, er wollte heute abend zu Hause bleiben.
Der alte Diener trat in ehrerbietiger Haltung näher und sagte:
Herr Leighton ging vor ungefähr einer Stunde aus. Er und Herr Gillespie hatten ein kurzes Gespräch in der Hinterstube, gleich darauf zog er seinen Ueberzieher an, setzte den Hut auf und ging fort.
Haben Sie bei dieser Gelegenheit Ihren Herrn gesehen? fragte der Arzt.
Nein, Herr Doktor, ich hörte nur seine Stimme.
Und kam die