Einer meiner Söhne. Anna Katharine Green
da er aber den befehlenden Blick des Arztes auf seinen niedergeschlagenen Augen haften fühlte, so gab er zögernd zu:
Die Stimme war nicht ruhig – wenn Sie mit Ihrer Frage darauf hinaus wollen. Herr Gillespie schien ärgerlich oder sehr aufgebracht zu sein. Er sprach sehr laut.
Wo waren Sie? forschte der Arzt weiter.
Im Speisesaal, Herr Doktor. Ich räumte den Eßtisch ab.
Hörten Sie, was Ihr Herr sagte?
Nein, Herr Doktor. Es war irgend was von Religion; von zu viel Religion.
Mein Bruder besucht ja viele religiöse Versammlungen, und das gefiel meinem Vater nicht, erklärte Alfred leise.
Der Doktor nickte, verwandte aber kein Auge vom Gesicht des Alten und fragte weiter:
Fand dieses Gespräch statt, bevor Herr Gillespie das Glas Wein trank, das er, wie Sie vorhin sagten, verlangt hatte?
Jawohl, Herr Doktor; einen Augenblick vorher. Herr Leighton bestellte es selber. Er sagte, sein Vater sehe angegriffen aus.
So – und wie kommt es denn, daß das Glas nachher auf dem Kaminsims im Eßzimmer stand?
Das weiß ich nicht, Herr Doktor. Vielleicht hat Herr Gillespie es selbst dorthin gestellt. Er konnte es niemals leiden, wenn auf seinem Schreibtisch etwas stand, was nicht dahingehörte.
Ich bemerkte, daß nach dieser Erklärung der ältere Bruder den Mund öffnete; aber er sagte nichts. Es war jetzt keine Spur mehr an ihm zu bemerken, daß er gezecht hatte.
Zeigen Sie mir die Flasche, woraus Sie den Wein eingeschenkt haben!
Der Diener – wie ich später erfuhr, hieß er Hatson – ging dem Doktor voraus in das Speisezimmer zu dem großen Anrichteschrank, der die ganze Hälfte der einen Wand einnahm. Von meinem Platz in der Halle konnte ich sehen, wie er auf eine Flasche deutete, allem Anschein nach eine Sherryflasche. Plötzlich fuhr er zusammen und rief so laut, daß ich seine Worte hören konnte:
Das ist nicht die richtige! Die Flasche, woraus ich den Wein für Herrn Gillespie einschenkte, war halb leer; diese hier ist ja aber ganz voll!
Wieder sah ich, wie des älteren Bruders Lippen sich bewegten; aber wieder schloß er den Mund, ohne zu sprechen.
Es wäre mir lieb, wenn diese Flasche gefunden würde, sagte der Arzt. Aber für den Augenblick braucht niemand danach zu suchen. Es ist besser, wir enthalten uns aller weiteren Schritte, bis Herr Leighton wieder da ist. George und Alfred – wenn ich bitten darf, lassen Sie mich ein paar Minuten mit Ihrem Vater allein! Und sorgen Sie dafür, daß niemand in den Speisesaal geht. Ich möchte nicht nötig haben, mich hinterher bei dem Coroner entschuldigen zu müssen. Ihr Vater ist keines natürlichen Todes gestorben!
Wir waren schon durch das ernste Benehmen des jungen Doktors auf diese Mitteilung vorbereitet gewesen. Trotzdem schien es mir auffallend, einen wie geringen äußerlichen Eindruck sie auf die beiden machte. Sie sahen sich nicht an, sie wechselten in diesem ernsten Augenblicke kein Wort des Trostes, der Aufmunterung untereinander. Standen sie nicht gut miteinander?
Ich muß jetzt telephonieren, fuhr Bennett fort. Sie müssen verzeihen, wenn ich dadurch scheinbar die einem Toten schuldige Ehrfurcht verletze. Die Umstände erfordern es.
Er warf noch einen schnellen Blick in den Speisesaal, um sich der Ausführung seiner Anordnungen zu vergewissern, und ging dann in die sogenannte Hinterstube, deren Tür er hinter sich verschloß.
Einen Augenblick darauf hörten wir seine Stimme am Fernsprecher.
Ich verstehe Doktor Bennetts sonderbares Benehmen nicht, hörte ich eine Stimme neben mir flüstern. Es war George, der diese Worte in leisem Tone zu seinem Bruder sprach. Dieser aber antwortete nicht, sondern sah sich mit merkwürdigem Ausdruck nach der zum ersten Stocke führenden Treppe um, als ob er dort jemand zu sehen erwartete.
Vater nahm regelmäßig Chloral, fuhr George flüsternd fort. Ich war aber immer des Glaubens, daß er damit bis zum Schlafengehen wartete. Ich habe nie gehört, daß er das Mittel hier unten eingenommen hätte.
Diesmal antwortete Alfred:
Heute abend hat er eine Ausnahme gemacht. Als ich um halb neun nach deinem Zimmer ging, begegnete ich Claire, die mit einem Fläschchen in der Hand aus Vaters Schlafstube kam. Sie war hinaufgeschickt worden, um das Chloral zu holen und brachte es ihm.
George sah seinen Bruder mit einem mißtrauischen Blick an und fragte:
Sagte sie das?
Ja.
Das arme Mädchen! Sie wird ihren Großpapa sehr vermissen. Ob sie wohl schon alles weiß?
Ich fühlte, daß ich nicht das Recht hatte, diesem Gespräch zuzuhören. Aber ich stand immer noch auf demselben Platz, wo ich mit dem Doktor gesprochen hatte, und ich wagte nicht eher fortzugehen, als bis ich von einer dazu befugten Person Erlaubnis erhalten. In dem Augenblick, wo ich mich wenigstens von den beiden Brüdern entfernen wollte, kam Bennett wieder aus der Hinterstube heraus und sagte zu mir:
Es wird Ihnen wohl sehr schlecht passen, daß Sie hier warten müssen. Aber ich muß Sie bitten, noch eine kleine Weile länger hier zu bleiben. Wollen Sie nicht im Salon Platz nehmen?
Ich dankte ihm für seine Freundlichkeit, blieb aber auf meinem Platze stehen, indem ich einen Blick auf die beiden jungen Gillespie warf.
Mit einer Feinfühligkeit, die mich überraschte, verstand George sofort meinen Wink. Er ging nach links, hob einen schweren Plüschvorhang zur Seite, so daß ein reich ausgestatteter Salon sichtbar wurde, und bat mich mit einer Verbeugung, einzutreten und Platz zu nehmen. Kaum aber hatte ich einen Schritt auf den Vorhang zu getan, als die Haustür sich öffnete, und ein Herr eintrat, in welchem ich sofort den sehnlichst erwarteten dritten Bruder vermutete.
Auch er war schön, sogar sehr schön, doch ähnelte er seinen Brüdern in keiner Weise. Anscheinend hatte er mehr Charakter und weniger – nun, ich kann den Eindruck, den er in jenem Augenblick auf mich machte, nicht recht beschreiben. Genug, ich fühlte auf den ersten Blick, daß er keine Alltagsnatur war.
Er sah niedergeschlagen und beinahe todmüde aus; doch raffte er sich zusammen, als er einen Unbekannten bemerkte, und warf sodann einen fragenden Blick auf den Doktor und die Dienstboten, die in einer dichten Gruppe im Hintergrund der Halle standen.
Augenscheinlich hielt er mich für einen von den Zechgenossen seiner Brüder.
Was ist denn los? rief er. – Es kam mir vor, als ob er ärgerlich wäre über die Anwesenheit der vielen Menschen, und ich hoffte im stillen, dies als ein gutes Zeichen für ihn auslegen zu dürfen; denn der Aerger ließ sich so erklären, daß er von den entsetzlichen Vorgängen keine Ahnung hatte. Was ist denn los, George? Was gibt's, Alph?
Das Schlimmste! antworteten beide gleichzeitig.
Vater ist tot! sagte George in dumpfem Ton.
Er hat zuviel Chloral genommen! fügte Alfred hinzu.
Leighton Gillespie stand einen Augenblick wie gebannt da. Dann warf er seinen Hut weit von sich und eilte auf die Hinterstube zu. Aber auf der Schwelle des Sterbezimmers stand Doktor Bennett in einer Haltung, die den jungen Mann zwang, stehen zu bleiben.
Warten Sie einen Augenblick! rief der alte Herr. Meine erste Meinung ist irrig gewesen. Ihr Vater ist nicht an einer zu großen Dosis Chloral gestorben, wie ich zuerst annahm, sondern an einer unbedingt tödlich wirkenden Menge Blausäure. Der Geruch, der von seinen Lippen strömt, beweist das. Und nun, Leighton, können Sie eintreten.
Drittes Kapitel.
Es war eine niederschmetternde Mitteilung; auf allen Gesichtern prägte sich deutliches Entsetzen aus. Und doch waren die drei Söhne augenscheinlich nicht überrascht. Der Börsenfürst mußte doch wohl geheime Sorgen gehabt haben, da sein plötzliches Ende den ihm am nächsten Stehenden als etwas beinahe Natürliches erschien.
Meine Lage begann mir als höchst peinlich zu erscheinen,