Einer meiner Söhne. Anna Katharine Green
Bennett und die drei Brüder waren in das Totenzimmer eingetreten, und hier sagte Leighton in gepreßtem Tone, dem er vergebens einen natürlichen Klang zu verleihen suchte:
Kann sich der Doktor nicht vielleicht irren? Da steht ja das Chloralfläschchen auf dem Kaminsims. Das ist ungewöhnlich – auf diesem Platz ist es sonst nicht zu finden. Da es aber hier ist – können wir daraus nicht schließen, daß Vater das Bedürfnis fühlte, dies Beruhigungsmittel zu sich zu nehmen? Blausäure kann man nur durch Vermittelung eines Arztes erhalten, und ich bin gewiß, daß Sie, Herr Doktor Bennett, ihm niemals ein so gefährliches Gift verschrieben haben!
Nein – denn die Anwendung desselben bei einem Leiden wie dem Ihres Vaters ist gänzlich ausgeschlossen. Aber Sie werden sehen, Leighton, daß er daran gestorben ist; alle Symptome sprechen dafür, und wir haben uns nunmehr bloß darüber klar zu werden, ob er es im Chloral zu sich nahm oder in dem zuletzt getrunkenen Glas Wein, oder auf sonst eine, uns bis jetzt noch unbekannte Weise. Es tut mir leid, daß ich so unzweideutig sprechen muß, aber in meinem Beruf kenne ich kein Vertuschen. Außerdem würde der Coroner keine solche Rücksicht bezeigen, selbst wenn ich aus Zartgefühl schweigen wollte. Die Tatsache liegt klar zutage.
Leightons Antwort konnte ich nicht hören, aber als sie alle wieder herauskamen, sah ich, daß er nicht nur des Doktors Ansicht als richtig anerkannt, sondern inzwischen auch erfahren hatte, in welcher Weise ich an dem Ereignis beteiligt war. Dies war deutlich an der Herzlichkeit seines Grußes zu erkennen, auch ging es aus den Fragen hervor, mit denen er sich bei mir nach seinem Kinde erkundigte.
Hierbei hatte ich Gelegenheit, mir sein Gesicht genauer anzusehen. Es war das melancholischste, das ich je in meinem Leben gesehen hatte, und besonders fiel mir dabei auf, daß diese Traurigkeit anscheinend immer auf seinem Antlitz lag und nicht erst durch den letzten Schicksalsschlag hervorgerufen war.
Es ist mir ein Rätsel, bemerkte Leighton in höflichem Tone zu mir, warum mein Vater in seinen letzten Schmerzen jemanden von der Straße hereinrufen ließ, da doch seine Söhne zu Hause waren. Indessen muß er es wohl für notwendig erachtet haben, und da sein Ruf befolgt wurde, so freue ich mich, daß der Zufall ihm und uns in Ihrer Person einen so menschenfreundlichen und dienstwilligen Helfer zugeführt hat.
Ich antwortete ihm nur mit einer Verbeugung; in der Tat hatte ich auf seine Worte kaum geachtet. Mich beschäftigte immer wieder der Gedanke an den Brief. Sollte ich ihn Leighton übergeben? Ein gewisser Instinkt hielt mich davon zurück – oder mehr noch vielleicht die Vorsicht, die mir in meinem Beruf als Anwalt zur zweiten Natur geworden war und zum Glück als Gegengewicht gegen den ersten Antrieb wirkte. Nach allem, was ich bis jetzt gesehen hatte, konnte ich nicht mit Sicherheit annehmen, daß der alte Gillespie den Brief für einen seiner Söhne bestimmt hatte.
Wollen Sie uns die Freundlichkeit erweisen, bis zur Ankunft des Coroners hier zu warten? fuhr Leighton Gillespie fort. Er hat telephoniert, er werde sofort hier sein.
Ich werde warten, antwortete ich. Er machte eine einladende Handbewegung, und ich betrat jetzt den Salon.
Es verstrich eine viertel – eine halbe Stunde; endlich ließ sich wiederum die Hausklingel vernehmen. Ich hörte verworrenes Stimmengeräusch und Hinundherlaufen und konnte daraus entnehmen, daß der Erwartete endlich eingetroffen war. Indessen mußte ich mich noch eine gute Weile in Geduld fassen, bis der Coroner sich bei mir im Salon einfand. Endlich hörte ich einen Schritt; ich blickte auf und gewahrte einen hageren alten Herrn, der sehr ernst auf mich zukam und sich dicht an meine Seite setzte, so daß er leise mit mir sprechen konnte und nicht zu befürchten brauchte, daß unser Gespräch belauscht würde.
Sie sind Herr Cleveland, begann er. Ich habe von Ihrer Firma gehört und bin mit Ihrem Partner, Herrn Robinson, mehr als einmal zusammengewesen. Kannten Sie Herrn Gillespie oder seine Angehörigen bereits vor dem heutigen Abend?
Nein, ich kannte Herrn Gillespie nur vom Hörensagen.
Es war also reiner Zufall, daß Sie seinen letzten Augenblicken beiwohnten?
Reiner Zufall – wenn wir nicht etwa ein Wirken der Vorsehung annehmen wollen.
Er sah mich mit einem scharf musternden Blick an und fuhr fort:
Erzählen Sie den Hergang!
Hier geriet ich in ein Dilemma. Verlangte die Pflicht von mir, einen Umstand zu enthüllen, den ich bisher sogar vor den Söhnen des Verstorbenen geheimzuhalten mich verpflichtet gefühlt? Diese heikle Frage vermochte ich mir nicht so im Handumdrehen zu beantworten; ich beschloß daher, mich noch ablehnend zu verhalten, und beschränkte mich darauf, meine bereits einmal vorgetragene Darstellung von Herrn Gillespies Ende einfach zu wiederholen. Als ich damit fertig war, fragte der Coroner, ob das kleine Mädchen in dem Augenblick, wo ihr Großvater den letzten Atemzug getan, noch im Zimmer gewesen sei.
Sie hielt seine Knie umklammert, solange er noch aufrecht stand, antwortete ich. Im Augenblick aber wo er hinsank, erschrak sie und lief hinaus.
Sprach er mit ihr? fuhr der Coroner fort.
Soviel ich gehört habe – nein.
Sagte er überhaupt irgend etwas?
Er stammelte ein paar unartikulierte Töne – Namen nannte er nicht.
Verlangte er nicht nach seinen Söhnen?
Nein.
Nach keinem von den dreien?
Nein.
Wie verbreitete sich die Todesnachricht im Hause?
Ich ging mit dem Kinde nach oben und sagte den jungen Herren Bescheid.
Coroner Frisbie rieb sich nachdenklich das Kinn; sein scharfes Auge wandte sich keine Sekunde von mir.
Lag auf dem Schreibtisch oder auf dem Fußboden in dem Augenblicke, als Sie das Zimmer betraten, ein leeres Fläschchen oder ein Stück Papier? frug er weiter.
Ein Papier? wiederholte ich. Was für ein Papier?
Nun, Papier, wie es Apotheker und Aerzte verwenden, um Arzneiflaschen einzuwickeln. Die Blausäure, die Herr Gillespie offenbar eingenommen hat, muß in flüssiger Form gekauft worden sein. Wir müssen also annehmen, daß zum mindesten das Fläschchen und vielleicht sogar das Einwickelpapier irgendwo im Zimmer herumlagen. Das heißt, wenn er dies Gift absichtlich zu sich genommen hat.
Ich erinnerte mich sehr gut, wie das von mir auf Geheiß des alten Herrn in den Briefumschlag gesteckte Papier ausgesehen hatte. Es war nicht von der Sorte, die zum Einwickeln von Arzneimitteln verwandt wird, und ich fühlte mich wesentlich erleichtert, antworten zu können:
Ein derartiges Papier habe ich nicht gesehen.
Wo ist das kleine Mädchen? fragte er weiter. Wenn die Kleine aussagte, ihr Großvater habe mir ein Stück Papier gegeben, so wollte ich dies einräumen und den Umschlag ausliefern. Hatte sie aber den Umstand vergessen, oder in ihrer Angst vielleicht gar nichts davon bemerkt, so wollte ich noch etwas länger darüber schweigen, in der Hoffnung, daß sich mir ein gangbarer Ausweg aus der Schwierigkeit zeigen würde. Es war mir daher ganz lieb, daß der Coroner nach dem kleinen Mädchen fragte.
Ich nehme an, daß Sie nicht gerade gern noch länger hier bleiben würden, fuhr er fort. Wenn Sie mir Ihre Adresse angeben und mir zusichern wollen, sich auf meinen Wunsch sofort zur Verfügung zu halten, so kann ich Sie für heute abend entlassen.
Ich überreichte ihm meine Karte, denn ich sah, daß ich keinen Vorwand hatte, mich noch länger im Sterbehause aufzuhalten, obwohl ich es, in Rücksicht auf meinen geheimen Auftrag, gern getan hätte. Ich ging daher auf die Tür zu. In diesem Augenblick kam der Doktor Bennett eilig in den Salon hinein und rief:
Ich habe was gefunden! ...
Dann schwieg er aber plötzlich, indem er einen schnellen Blick auf mich warf. Er schien im Zweifel zu sein, ob es angebracht wäre, in meiner Gegenwart von seinem Funde zu sprechen. Doch der Coroner schien derartige Bedenken nicht zu haben; er ging eilends auf den alten Hausarzt zu und rief:
Sie haben das Fläschchen gefunden? Oder etwa nur das Papier,