Geschichten der Nebelwelt. Inga Kozuruba
blieb vor einem Haus mit zwei Stockwerken stehen, das dem Schild nach angeblich die Werkstatt von Schneidern und Nähern war und neben einem Garnknäuel und einer Nadel auch ein mit einer Rose besticktes Tuch zeigte. Demnach sollte es im Erdgeschoss die Arbeitsräume sowie das Lager im Keller beherbergen, während darüber üblicherweise Wohnkammern der Handwerker liegen sollten. Natürlich wusste Max, dass das nur eine Tarnung war. Er sah aufmerksam nach beiden Seiten der Gasse, um sicher zu sein, dass ihn niemand erblicken würde, und kündigte sich mit dem vereinbarten Klopfzeichen an, mit dem die richtigen Kunden von den falschen unterschieden wurden. Er musste kurz warten, dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Er sah das Aufblitzen von aufmerksamen, schwarzen Augen im Dunkel dahinter, dann die hellen Zähne eines makellosen, verruchten Lächelns und die Tür schwang auf, um ihn einzulassen. Rasch trat er ein, und die Tür wurde leise hinter ihm geschlossen.
Es war selbstverständlich Rose, die gertenschlanke, großgewachsene Frau mit südländischer Herkunft, auf die ihr selbst im tiefsten, dunkelsten Monat der Kälte dunklerer Teint und die einen Hauch mandelförmigen Augen hinwiesen. Sie hatte wie immer aufreizend rot angemalte, sinnliche Lippen, die in aufregendem Kontrast zu ihren schwarzbraunen Haaren standen, die sie einem Krieger gleich kurz trug. Rose achtete stets auf die Tür, kannte Max inzwischen gut und er sie ebenfalls. Unter ihrer auf Figur geschnittenen Männerkleidung hatte sie trotz ihrer schlanken Statur gut definierte Muskeln wie ein Kämpfer, der stets im Training war. Sie war sehr gut in der Lage, die Kunden aus dem Haus hinauszubefördern, wenn sie den Mädchen Scherereien machten, oder gar die Hand gegen sie erhoben. Er wusste auch, dass sie hin und wieder selbst Kunden bediente – allerdings nicht auf die übliche Art, sondern vielmehr durch den Gebrauch einer Reitgerte oder eines Rohrstocks, oder auch mal mit der Hand, die zu solchen Gelegenheiten in einem schwarzen Lederhandschuh steckte. Max hatte sich mal mit betrunkenen Kopf von ihr den Hintern versohlen lassen, dann aber befunden, dass diese Spielart nichts für ihn war. Rose war auch eine der beiden Frauen, die das Geld von den Kunden kassierten.
„Guten Abend, Herr Wachmann“, neckte sie ihn mit einer gespielten Unterwürfigkeit. „Wir freuen uns alle sehr über Ihre Besuche. Heute schon eine bestimmte Blume im Sinn?“
Max schmunzelte, er mochte den Klang ihrer dunklen Stimme. In diesem Haus war es Brauch, dass die Damen sich nach Blumen benannten – passend zu ihrer äußeren Erscheinung oder ihrem Naturell. Er wusste nicht, woher diese Sitte kam, hatten die anderen Freudenhäuser doch keine so verspielte Regel. Aber sie gefiel ihm, und darum kam er stets nur dorthin. Max dachte kurz nach: „Gibt es womöglich eine neue im Blumenstrauß?“
Rose schüttelte den Kopf. „Derzeit nicht, mein Herr. Aber ich bin mir sicher, dass eine eurer Lieblingsblumen heute zu Eurer Verfügung stehen wird, auch wenn die meisten Mädchen schon beschäftigt sind. Seit etlichen Tagen laufen die Geschäfte hervorragend. Das ist wohl der Ausgleich für die schlechten Wochen zuvor.“ Dann sah sie ihn - wie immer - erwartungsvoll an.
Max grinste, löste seinen Waffengurt, um ihn der Frau zur Verwahrung zu überlassen, und drückte ihr die vereinbarte Anzahl von Münzen in der Hand, wie immer. Sie nickte lächelnd mit dem Kopf und ließ ihn aus dem Vorraum ins Innere des Gebäudes passieren.
Im nachfolgenden Raum, der durchaus gemütlich eingerichtet war, sogar durch eine Feuerstelle gewärmt und durch Öllampen ausreichend erhellt, kannte er sich inzwischen sehr gut aus. Er ließ sich von Nelke, der blonden Schankfrau mit graugrünen Augen und mit einer fast schon knabengleichen Statur, noch einen Wein reichen – die andere Person, die ihm das Geld abnehmen würde, falls er nicht schon bei Rose gezahlt hätte – und ließ seine Blicke über die drei Mädchen wandern, die gerade keinen Kunden hatten. Er kannte sie inzwischen alle, auch diejenigen, die gerade nicht anwesend waren. Von oben hörte er gedämpft eindeutige Geräusche aus mehreren Räumen. Es hörte sich für ihn wirklich so an, als wären die drei vor ihm die einzigen, die gerade noch verfügbar waren. Rose hatte demnach nicht geflunkert.
Nachdem sein Blick erst in die eine Richtung gewandert war, dann wieder vollständig zurück, war er sich immer noch unschlüssig. Jede der Frauen hatte ihre Vorzüge, auf die eine oder andere Art. Aber zwei von ihnen hatte er in den letzten Tagen schon einmal aufgesucht, und ihm stand der Sinn nach Abwechslung. Also streckte er seine Hand mit einem wie er fand nicht unfreundlichen Grinsen in Richtung der braunhaarigen, blauäugigen Lilie aus, die er wegen ihrer ausgeprägten Kurven schätzte, aber auch wegen ihrer gefügigen Art. Wie die anderen trug sie nichts weiter als ein aufreizendes Nachtkleid aus dünnem Stoff, der sich um ihren Körper schmiegte und beinahe nichts der Fantasie überließ. Mit einem Lächeln erhob sie sich, nahm seinen Arm und ging mit dem Wachmann nach oben, um ihm zu Diensten zu sein.
Ein Mann begegnete ihm, der gerade auf seinem Weg nach unten und Richtung Ausgang war. Max erkannte dessen Gesicht. Er hatte den Mann schon häufiger in diesem Etablissement gesehen. Er nickte ihm zu, die übliche Art von Begrüßung in diesem Haus, wo man einen anderen Mann nicht nach seinem Namen fragte und auch nach nichts anderem sonst. Für einen Moment, mehr durch Zufall denn durch eine Absicht, trafen sich ihre Blicke. Die Härchen auf Max' Unterarmen richteten sich auf, als ihm für wenige Momente ein Schauer über die Haut lief. Doch dann legte Lilie ihren Arm enger um seine Hüfte und seine Aufmerksamkeit wandte sich erneut ihr zu, so dass der Augenblick verflog und in Vergessenheit geriet. Und während Max sich die Freiheit herausnahm, die besonderen Vorzüge von Lilies Gesellschaft zu genießen, begab sich der andere Kunde nach Hause, zu seiner Familie, und zu seiner Frau.
***
Das Abendessen wartete bereits auf dem Tisch, als der Richter sein Haus betrat. Sein Bediensteter hatte sich aber schon vor einer Weile zurückgezogen. Karl roch frisches, selbstgebackenes Brot und lächelte leicht. Der Duft nahm ihm etwas von der Anspannung des Abends, so dass er den Schlaf womöglich doch schneller finden würde als befürchtet. Er ließ sich mit der Mahlzeit dennoch Zeit, obwohl es an diesem Tag später geworden war als sonst. Die Dunkelheit und das Licht der beiden dominanten Monde machten ihn nervös. Normalerweise machte er sich nichts aus den Dingen, die von Menschen in die Konstellation der Gestirne hineingedeutet wurde, obschon er von einer geheimen Kunst wusste, die daraus ihre übernatürliche Macht bezog. Doch im Anbetracht der jüngsten Ereignisse erschienen auch ihm der Graue und der Rote sehr unheilvoll in ihrem gemeinsamen Wirken. Als der Richter sich dann schließlich zu Bett begab hoffte er, dass ihn diese Nacht keine bösen Träume heimsuchen würden - doch das war ihm nicht vergönnt.
Es regnete erneut, noch sehr viel schlimmer als in den Tagen zuvor, und die ganze Stadt schien überflutet zu sein. Karl sah das Wasser in kleinen Wellen über die Schwelle seines Schlafzimmers schwappen. Im Zwielicht des wolkenverhangenen Tages sah er Körper auf dem Wasser vorbeitreiben, das sich in den Straßen aufstaute. Die Flut machte keinen Unterschied zwischen Männern, Frauen, Alten oder Kindern. Er sah auch eine Ordensschwester, ihr Gesicht war nach oben gerichtet und ihr leerer Blick sah anklagend zum Himmel. Warum habt Ihr uns verlassen, oh Götter?
Das Wasser war dunkel, beinahe schwarz – doch als es dann mit sanften, unerwartet warmen Berührungen seine nackten Füße erreichte und er an sich hinunter sah, waren seine Zehen und die Oberseite der Füße nicht einfach nur nass, sie waren rot. Ein Wimmern des Entsetzens entwich seiner Kehle, das er mit beiden Händen über seinem Mund abzuwürgen versuchte. Dann hörte er ein dumpfes Geräusch und sah sich um – es war der Körper seines Dieners, der mit dem Gesicht nach unten an die Oberfläche des blutigen Wassers aufgestiegen war und gegen die Wand stieß. Dann riss er plötzlich seinen Kopf hoch und fauchte Karl mit einer dämonischen, hassverzerrten Fratze an. Es wurde dunkel.
***
Nachdem Feli sich vom Richter verabschiedet hatte, machte sie sich voller Vorfreude auf den Weg. Egal, was sie herausfinden würde, egal, was noch auf sie zukam – zuerst wartete die Straße auf sie, und die Wiesen und Wälder um sie herum. Das war das wichtigste in ihrem Leben, immerzu in Bewegung zu sein. Ein leichtes Schmunzeln lag auf ihren Lippen, weil sie sich ihrer Wirkung auf den Richter durchaus bewusst war – und es sehr zu schätzen wusste, dass er sich zurücknahm und ihre Beziehung rein geschäftlicher Natur war. Sie hatte schon mehr als einem Mann mit deutlichen Worten erklären müssen, dass sie kein Interesse an einem Heim oder einer Familie hatte. Die Welt war ihr Zuhause. Wer das