Dirndlgate. Jan Schreiber

Dirndlgate - Jan Schreiber


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betrachteten. Jessica verschränkte die Arme und hielt dabei den Telefonhörer in der Hand.

      „Jessica ist Deutschlands bekannteste Expertin für Sexualstrafrecht“, sagte Toni. „Sie hat einen enormen Ruf, und jetzt haben wir dieses Foto. Was, wenn es an die Öffentlichkeit kommt? ‚Berghotel München: Expertin für Sexualstrafrecht in Sexorgien verwickelt.‘“ Toni zeichnete die Schlagzeile mit den Händen in die Luft.

      „Wieso Hotel?“, fragte Sebastian nach einem Augenblick, und Jessica fiel sein Zögern auf.

      „Schau doch das Foto an. Siehst du nicht das Handtuch mit dem Schriftzug? Ist nicht ganz zu sehen, aber hier an der Wand, genau der gleiche Schriftzug. Das Foto wäre ein harmloses Bild, wäre Jessica irgendeine Frau. Das ist sie aber nicht. Denk mal an den konservativen Heck. Was passiert, wenn er das Foto sieht? Denk an Marco Rauch von der Bürgerwehrgruppe. Denk an die zerstochenen Reifen deines BMWs und die Schmierereien an unserer Fassade. Weißt du nicht mehr, was da gestanden hat? Da stand Huren…“

      „Schon gut“, unterbrach Sebastian und nahm seinen Weg wieder auf.

      „Der Heinrich-Prozess hat viel Staub aufgewirbelt“, fuhr Toni fort. „Wir haben nicht nur Heck gegen uns, sondern auch Marco Rauch und seine Kumpane sowie immer noch Teile der Feministinnengruppe. Die alle zusammen warten nur auf einen Fehltritt, auf eine Schwachstelle. Bisher haben sie nichts gefunden, aber das Foto könnte genau diese Schwachstelle sein. Von jetzt an müssen wir jeden unserer Schritte genau überlegen. Der Heinrich-Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Der letzte Termin …“ Toni zeigte auf den Wandkalender, „… ist in vierzehn Tagen. Bei diesem Fall kommt so vieles zusammen … Jessicas Gespür, was es mit Heinrichs Zeigelust auf sich hat. Dass er aus diesem Grund für die Vergewaltigung nicht infrage kommen konnte, obwohl es durch die angebliche DNA-Spur ja sehr danach aussah. Also die ganze Auseinandersetzung mit Staatsanwalt Jung.“

      „Zurückzurudern ist nicht gerade Steven Jungs Stärke“, sagte Sebastian.

      „Eben! Das Foto könnte diesem guten Verlauf aber sehr schaden. An dem Bild hängt Jessicas Glaubwürdigkeit. Wir sollten auch nicht vergessen, mit wem wir es zu tun haben. Heck hat die Verteidigung des Exhibitionisten abgelehnt, und dann kommt ausgerechnet eine Frau, um sie zu übernehmen.“

      „Ja.“ Sebastian lächelte.

      „Das muss Heck vorkommen, als wäre unten plötzlich oben und umgekehrt. Sein Vater hat hier am Gericht noch Homosexuelle wegen ihrer Handlungen verurteilt.“

      „Wieso weiß Toni etwas über Heck, was ich nicht weiß?“, fragte Jessica.

      „Ach, Jess, wenn du an einem Fall bist, bekommst du nur mit, was du willst. Ich hatte versucht, mit dir über Heck zu reden.“

      „Schon gut. Aber das erklärt natürlich einiges. Dennoch können wir Hecks Vater noch nicht mal einen Vorwurf machen, der Paragraf ist zu dieser Zeit geltendes Recht gewesen.“

      „Das schon, Jess“, sagte Sebastian. „Aber du weißt: Es gibt immer Spielraum. Nicht wahr? Hecks Vater war ein Hardliner durch und durch, und Heck entstammt genau dieser Tradition. Trotzdem, das sind doch alles mehr oder weniger Gefühlsduseleien. Selbst wenn das Foto an die Öffentlichkeit kommt, das ändert doch die Beweislage vor Gericht nicht. Ich sehe den Zusammenhang nicht, Toni.“

      „Steven Jung muss sich vor Gericht nur einmal mit beiden Händen an die Brust fassen und schon hätte er Jessica vorgeführt, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Säße Marco Rauch im Saal, hätte er seine wahre Freude an dieser Geste.“

      „Toni hat recht“, sagte Jessica. „Sie können jederzeit meine Autorität untergraben, und sogar die der Kanzlei.“

      Sebastian winkte ab, verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und drehte sich von Jessica weg.

      „Konkret müssen wir uns fragen“, sagte Toni, „wie reagieren Jochen Heinrich, unser Mandant, und seine Frau darauf? Sollte er erfahren, dass seine Anwältin nackt und betrunken in der Zeitung zu sehen ist?“

      „Käme er darauf, Jessica das Mandat zu entziehen“, antwortete Sebastian und drehte sich wieder um, „ist ihm nicht zu helfen. Das kann ich mir nicht vorstellen.“

      „Im ersten Moment vielleicht nicht, vor allem jetzt nicht, weil wir unter uns sind und das Bild betrachten. Sobald aber die Masse davon erfährt, hat die ein Druckmittel, auch gegen Heinrich.“

      Jessica ließ sich in den Stuhl vor den Schreibtisch fallen, legte den Telefonhörer ab und hielt die Hände vors Gesicht.

      Sie dachte an Maria, Heinrichs Frau.

      „Frau Scheffold, wir haben drei Töchter“, hatte Maria gesagt. „Die älteste kam zu früh, die mittlere war in ihrer Entwicklung langsam und die kleine ein Schreikind. Mein Mann war immer für uns da. Bei ihm beruhigten sich die Mädels sofort, in seiner Nähe sah immer alles hoffnungsvoll aus. Dann erfahre ich von dieser Neigung, und es fühlte sich für mich an, als hätte er mich betrogen und verraten, und im Grunde hat er das auch. Dann habe ich aber gemerkt, dass ich die drei Jahrzehnte mit ihm nicht auslöschen kann. Er ist immer noch mein Mann, und gerade jetzt stehe ich zu ihm. Heißt es nicht so, Frau Scheffold, in guten wie in schlechten Zeiten? Bitte helfen Sie uns. Ohne Sie müssten wir wegziehen, einen anderen Namen annehmen, die Kinder würden von ihren Freunden weggerissen.“

      Jessica schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Sich vorstellen zu müssen, Marias Vertrauen zu verlieren, war schlimm. Was würde sie zu diesem Foto sagen?

      „Jessica!“, sagte Sebastian etwas lauter. „Hilf mir noch einmal auf die Sprünge. Belzer hat mit deinem Handy die Fotos gemacht, richtig? Am Sonntagmorgen hast du dann die erste SMS erhalten, verbunden mit der Aufforderung, ein Schutzgeld zu zahlen, ansonsten käme ein brisanter Datensatz in Umlauf. Heute Morgen die vierte SMS, deine Anzeige gegen unbekannt bei der Polizei. Und was war jetzt noch mal mit diesem Anruf?“

      „Halb zehn etwa hat mich mein Bankberater angerufen, der schon halb in Rente ist. Er wunderte sich über eine Überweisung auf ein Nummernkonto. Knapp zehntausend Euro.“

      „Ja.“

      „Ich habe das Geld nicht überwiesen, habe ich sofort gesagt.“

      „Ist doch klar“, sagte Toni. „Irgendwer hat deine gesamten Daten abgegriffen, und sie wollen mit der Überweisung zeigen, wie viel Macht sie haben.“

      „Das sind also nicht zwei Sachverhalte, sondern wahrscheinlich nur einer“, stellte Sebastian fest. „Aber was ich nicht verstehe: Das Foto oder die Fotos waren doch nur auf deinem Handy?“

      „Ja, eben“, antwortete Jessica. „Es war also jemand an die Fotos gelangt, und die Frage drängte sich auf, wie das sein konnte.“

      „Und?“

      „Es ist sehr wahrscheinlich eine Unachtsamkeit, die ich mir selbst zuschreiben muss. Ich bekomme von Google immer mal wieder eine Service-SMS, die ich meistens nicht lese. In einer davon habe ich im Prinzip zugestimmt, dass sich mein Handy dreimal am Tag mit dem Google-Account synchronisiert. Ich hätte ein Häkchen entfernen müssen, was ich aber nicht getan habe. Auf diesem Weg sind die Fotos in die Cloud gewandert. Ganz automatisch also. Nachdem sie hochgeladen waren, muss sie dort jemand abgegriffen haben. Jemand hatte oder hat also Zugriff auf mein Google-Konto.“

      „Kann das sein?“, fragte Sebastian, zögerte auf einmal und streckte sein Kinn vor. „Also ich meine so schnell?“, fuhr er nach einem Moment fort. „Jemand müsste ja geradezu auf das Foto gewartet haben, verstehst du? Zwischen Samstagabend und Sonntagmorgen liegen gerade mal acht Stunden. Außerdem Belzers Hinweis, das Bild zu löschen. Diese SMS kommt mir vor wie ein billiges Alibi, das freilich nicht funktionieren kann, beachten wir die Zeit.“

      Was Sebastian sagte, machte durchaus Sinn. Aber wäre Michael in seinem betrunkenen und aufgewühlten Zustand wirklich fähig gewesen, die Fotos auf sein Smartphone zu ziehen? Natürlich ritt der Chef wieder auf Michael herum. Trotzdem war Jessica aufgefallen, wie Sebastian bei der letzten Antwort gezögert hatte. Ja, hätte er nicht schon längst gesagt: So jetzt ist es gut,


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