Dirndlgate. Jan Schreiber

Dirndlgate - Jan Schreiber


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fuhr die meiste Zeit auf der linken Spur. Sie hatte bis jetzt zweimal angehalten, aber nur, um Michael anzurufen, der nicht ans Telefon gegangen war. Sie ahnte, was passiert war. Sollte sich diese Vermutung als wahr herausstellen, war es ein Ärgernis ohnegleichen. Verdammte Technik! Sie schlug mit der Hand auf das Lenkrad. Und auf der anderen Seite Michael. Jessica feierte gern. Das wusste er. Und hatte er sie nicht zum Trinken überredet? Wäre es dann nicht auch möglich, dass er die ganze Situation so provoziert hatte? Warum? Beruflich trat er auf der Stelle. Er kam einfach nicht an Sebastian vorbei. Auch den Heinrich-Prozess hatte Jessica schließlich übernommen.

      Jessica fuhr über eine Brücke und sofort hielten die Hände das Lenkrad fester. Sie hatte sich bei Sebastian immer für Michael eingesetzt. Die beiden konnten nicht miteinander. War das ihre Schuld?

      Sie schüttelte den Kopf, verfluchte den Aperol und klopfte noch einmal mit der Faust auf das Lenkrad. Jetzt musste sie Alexander die Fotos zeigen, wo sie es ohnehin schwer miteinander hatten. Und sie musste sich beeilen. Vielleicht waren die Fotos schon im Netz, noch bevor sie nach Hause kam.

      Andererseits: Ging es hart auf hart, konnte sie auf Alex zählen. Er hatte auch einmal seiner Assistentin sehr zur Seite gestanden. Sie war wegen einer Angststörung lange krankgeschrieben gewesen.

      Zwei Stunden später trat Jessica in die Scheffold-Villa. Sie ignorierte die kühle Umarmung des Hauses. Während sie schnell die Treppen nach oben lief, hielt sie sich an dem Gedanken fest, die Bilder könnten Alexander und sie wieder näher zusammenbringen. Im Flur streifte sie sich schnell die Schuhe von den Füßen. Alexander war im Wohnzimmer. Jessica hörte seine Stimme, er schien zu telefonieren. Sie öffnete die große Flügeltür.

      „Du bist zu blöd, um aus einem Bus rauszuschauen“, sagte Alexander ungehalten. Jetzt drehte er sich Jessica zu und nickte. „Du, ich mach jetzt Schluss.“ Er nahm das Handy vom Ohr. „Wenn man nicht alles selber macht“, sagte er.

      Gleich wird er sich die Fotos kurz anschauen und sagen: Wer sich mit uns anlegen will, muss sich warm anziehen. Das sitzen wir auf einer Arschbacke aus.

      Jessica konnte in dem Moment, da sie auf ihren Mann zuging, die typischen Alexander-Sätze beinahe fühlen. Er würde die Arme nach ihr ausstrecken, und sie würde das Gesicht auf seine Brust legen.

      Er griff nach Jessicas Handy und sah sich die Fotos an. Sie konnte keine Gefühlsregung in seinem Gesicht ablesen.

      „Ja“, sagte Jessica. „Und ich habe im Verlauf des Tages drei SMS bekommen.“

      „Was für SMS?“

      „Also ich soll jeden Monat Geld zahlen. Die Fotos kämen nicht ins Internet, und außerdem wäre ich in Zukunft vor solchen Angriffen geschützt.“

      „Verstehe“, antwortete Alexander nach kurzem Zögern. „Äh, aber trotzdem eine Erpressung. Oder nicht?“

      Jessica nickte, registrierte aber sehr wohl, dass Alexanders Stimme eine Nuance heller geworden war. Jessica hatte erst relativ spät ihr großes Talent entdeckt, die Mikrozeichen der Kommunikation zu erkennen. Viele Male hatte ihr diese Begabung zum entscheiden Vorteil vor Gericht verholfen. Und jetzt? Er kannte die Fotos bereits? Konnte das sein? Alexander gab ihr das Handy zurück, schaute an ihr vorbei, drehte sich um und lief zum Fenster. Jessica lief ihm ein paar Schritte hinterher. Das Parkett knarrte. Er drehte sich um.

      „Bleib, wo du bist! Du hast ja wohl die Fotos nicht alleine gemacht.“ Er legte sich beide Hände an die Brust und grinste. „Du und Belzer, ich hätte es mir denken können.“

      Jessica ging auf Alexander zu.

      „Lass mich einfach allein“, rief er zornig und kehrte ihr wieder den Rücken zu.

      Langsam drehte sich Jessica um und lief in ihr Büro. Mit zittrigen Fingern wählte sie Tonis Nummer.

      „Ja?“

      „Toni, wo bist du?“

      „In Frankfurt auf dem Flughafen.“

      „Gott sei Dank.“

      „Vielen Dank, dass du dir Sorgen um mich machst.“

      „Ja, das auch. Aber kommst du morgen in die Kanzlei?“

      Jessica schilderte Toni kurz, was am Samstag und heute passiert war. „Ich muss Sebastian darüber informieren.“

      Toni zog so deutlich die Luft durch die Zähne, dass es Jessica selbst am Handy hören konnte.

      Kapitel 3

      Jessica sah Sebastian dabei zu, wie er im Büro auf und ab lief. Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und streckte den Kopf nach vorne. An der Wand hinter ihm hingen Fotos und verschiedene Artikel, die an die wichtigsten Fälle erinnerten. Darunter auch das Bild von ihm und Jessica vor dem riesigen Flughafen in Florence, Arizona.

      Zwei Tage nachdem sie die Hinrichtung der deutschen Hübner-Brüder hatten mitansehen müssen. Unfassbar tragisch: Nachdem die Brüder tot waren, gab der internationale Gerichtshof in Den Haag Sebastians Verteidigungsstrategie recht. Die USA hatten den Brüdern jeglichen konsularischen Beistand verwehrt. Die Hübners hätten das Recht gehabt, ihren Fall noch einmal aufrollen zu lassen, und zwar mit vom deutschen Staat gestellten Anwälten. So aber hatten sie keine Chance. In den Akten waren noch nicht einmal ihre Namen richtig geschrieben gewesen. Einer der Hübners hatte sich für den besonders qualvollen Tod in der Gaskammer entschieden, um gegen die Todesstrafe zu protestieren. Wann immer Jessica an die Hübners dachte, begann sie zu frieren, Sebastian litt seit diesem Erlebnis an Asthma, und Jessica wusste: Sie und er waren vor allem über diesen Fall miteinander verbunden. Er hatte es verstanden, Jessica nach dieser Sache wiederaufzubauen, vielleicht wäre ihr Weg ohne ihn ganz anders verlaufen.

      Während des Prozesses um die Hübners hatte die Kanzlei im engen Kontakt zur Bundesregierung, vor allem zum Außenministerium, gestanden. Auch jetzt noch, zwölf Jahre nach diesem Fall, vertraten sie oft Mandanten, die allerhöchste Positionen bekleideten. Sebastian und Jessica hatten es geschafft, den Status der Kanzlei noch weiter auszubauen. Sie konnten sich vor Mandatsanfragen nicht retten. Bis jetzt hatten sie alle Schwierigkeiten und Herausforderungen gemeistert und waren daran gewachsen.

      Bis jetzt.

      Sebastian nahm die Sache mit den Fotos nicht auf die leichte Schulter. In den letzten Minuten hatte er ein paar Mal „da hier“ gesagt, eine Wortkombination, die er vor Gericht nie verwandte und die ihm nur entwischte, wenn er emotional aufgeladen war und sich in vertrauter Umgebung wusste. Sebastians Büro war so ein Ort. Hier hatten sie all die wichtigen Entscheidungen getroffen, hier roch es nach Arbeit. Er blieb vor Toni stehen, musterte sie kurz und setzte seinen Weg fort. Er will wissen, wie sie darüber denkt, dachte Jessica.

      Sebastian löste Anspannung gern durch Bewegung, manchmal bekam er auch einen Wutanfall und warf den Telefonhörer durch den Raum. Im Gegensatz zu ihm verfiel die große, schwere Toni unter Druck in eine Art körperliche Starre, und genau das war jetzt der Fall. Sie hielt die Hände an der Hüfte, schaute zu Jessica hinüber und stand still.

      „Bevor du wählst“, sagte Sebastian, „mach langsam. Lass mich noch einmal die Dinge zusammenfassen. Nur damit ich alles richtig verstehe.“

      Sebastian ging zum Schreibtisch und griff nach dem Foto, das Jessica ausgedruckt hatte.

      „Ich sehe eine attraktive Frau. Okay, die Frau hat offensichtlich getrunken. Sie hat keinen BH an und ich sehe ihre Brüste. Das Bild strahlt eine natürliche Selbstverständlichkeit aus, also es ist nicht provokativ, noch ist die Frau scheu im Umgang mit Nacktheit, so als wäre der Fotograf gar nicht dabei. Sie zieht ein Dirndl an. Eine private Umkleideparty vielleicht, die etwas zu sehr entartet ist? Ich mein, jeder von uns kennt das und hat das schon einmal erlebt: Man trinkt viel zu viel, und am Ende hat man eine Klobrille um den Hals und sagt Dinge, die man besser nicht gesagt hätte. Das Erwachen kommt dann am nächsten Morgen, nicht wahr? Ist es nicht so? Es ist genau so ein Bild. Was ist daran schlimm?“

      Toni trat zu Sebastian. Wieder einmal hatte er Toni ganz gekonnt aus ihrer Starre befreit, und das war etwas, das Jessica


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