Dirndlgate. Jan Schreiber

Dirndlgate - Jan Schreiber


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Gesprächspartner zu verunsichern. Jessica kannte diesen Trick. Trové allerdings lächelte und lehnte sich ebenfalls zurück. Ja, klar, es ist nicht seine erste Talkshow.

      „Verständlich“, antwortete er ruhig. „Wir müssen aber wissen, die fünf Sinne des Menschen beeinflussen sich gegenseitig in einem offenen wechselseitigen System, während technische Systeme geschlossen sind. Waren wir in Urzeiten in freier Natur unterwegs, und es kam ein Reiz von außen, haben wir sofort reagiert und das Gehirn hat sehr schnell in einen Zustand der Harmonie zurückgefunden.“

      „Jetzt dagegen …?“

      „Jetzt dagegen bleibt der Erregungszustand lange und fortwährend erhalten, ohne dass es wieder zu einer harmonischen Balance kommt. Die Fachleute sagen ‚Closure‘ dazu.“

      „Denken wir mal an bestimmte Ernährungsempfehlungen wie zum Beispiel Paleo. Es heißt doch immer, wir Menschen hätten uns seit tausenden von Jahren kaum verändert.“

      „Jein, antwortete Trové. „Der alte Stammesmensch, ich habe es schon grob angesprochen, lebte vor allem in einer Welt des gesprochenen Wortes und des Schalls.“

      „Gut, wir leben heute nicht mehr im Wald, das ist richtig.“

      „Heute leben wir vor allem in einer visuellen Welt. Die gesamte Wahrnehmung hat sich sehr auf das kühle, distanzierte Auge verlagert. Mich und meinen Gesprächspartner trennt oft etwas: das Handy, der Videobeweis oder ganz häufig der Computerbildschirm. Deshalb hat sich auch die Kommunikation so abgekühlt. Mit dem Siegeszug des Computers erlebt die visuelle Welt ebenfalls einen Triumphzug. Aber: Wird ein Sinnesorgan ständig überreizt, geraten die anderen in eine Art Lähmung, einen Zustand, den wir etwa von der Hypnose her kennen.“

      „Das bedeutet doch nichts anderes, als dass ich mich, nun ja, als dass ich mich …“ Der Moderator ruderte ein wenig unbeholfen mit den Armen.

      „Sie sollten sich möglichst um eine breite Wahrnehmung kümmern. Verstehen Sie? Ich bin kein Gegner der Technik. Aber wir sollten verstehen, wie sie auf uns wirkt, damit wir die schwachen Stellen ausgleichen können. Denken wir an das Beispiel mit dem Hammermann. Auch er wird sich überlegen, was er machen kann, um gesund zu bleiben. Diese Überlegungen führen dann ganz automatisch zu einem reiferen Umgang mit Smartphone und Internet. Wir brauchen Rückzugsorte, Rückverbindung, Ruhephasen. Je schneller die Technik wird, desto wichtiger scheint es, darauf zu achten.“

      „Sie zeigen in Ihrem Buch eine Verbindung, die zurückgeht bis zum Alphabet und vor allem dem Buchdruck. Gibt es noch mehr Verbindungen zwischen Buch und Internet?“

      „Ja, für Buch und Internet gilt: Ich muss das Gelernte ins Leben überführen. Es nutzt nichts, hundertzwanzig Tindermatches in der Liste zu haben. Ich muss ein Date ausmachen und die Frau schlussendlich treffen. Mit den Lippen mache ich dabei hoffentlich die Erfahrung eines sinnlichen Kusses, dabei kann ich sogar die Augen schließen – oder manchmal ist es sogar besser, die Augen zu schließen.“

      Im Publikum kam Gelächter auf. „Wer Lust hat“, rief Trové auf einmal laut ins Studio, „der kann ja mal versuchen, seine Ohren zuzuklappen, ohne dabei die Hände zu benutzen.“

      Jessica schmunzelte. Sie sah, wie manche Gäste doch nach ihren Ohren griffen oder es bei ihrem Nachbarn versuchten.

      „Wir stellen fest“, sagte Trové, „es geht nicht. Ein Indiz dafür, wie wichtig die Ohren sind.“

      „Sie schreiben: ‚Mit Alphabet und Buchdruck entsteht der typografische Mensch, das schnelle, distanzierte Erfassen von Mustern über das Auge. Die Mönche im sechsten, siebten Jahrhundert haben anders gelesen als wir.‘“ Von Ackern schaute einen Augenblick von seiner Karte auf.

      Trové nickte. „Die Mönche haben beim Lesen vor sich hingemurmelt. Man kann daran zeigen, wie sich das Leseverhalten geändert hat und immer noch ändert.“

      „Ja“, von Ackern nickte. „Wer will, kann das alles in Ihrem Buch nachlesen. Und Sie schreiben außerdem noch vom Homo Digitalis. Ist das eigentlich Ihr Ernst?“

      „Ja, natürlich.“

      Jessica schaute in die Runde. Während Trové nach wie vor eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte, zappelte Steffen Arnold, ein schlaksiger Brillenträger Mitte zwanzig, auf seinem Stuhl umher. Er rieb Daumen und Zeigefinger unablässig aneinander und konzentrierte sich wahrscheinlich darauf, aus dem Reiben kein Schnippen entstehen zu lassen. Jessica atmete zwei-, dreimal tief durch. Sie hatte in den letzten Jahren außerhalb des Fernsehens an vielen Podiumsdiskussionen teilgenommen und war von den Moderatoren immer gleich angesprochen worden. Hier hatte sie auf einmal Gelegenheit zuzuhören. Warum?

      „Konkret“, hakte der Moderator nach, „welche Eigenschaften hat der Homo Digitalis?“

      „Ich zähle mal ein paar auf, die wir am ehesten als negativ bezeichnen würden: verändertes Leseverhalten, mehr an der Oberfläche als in der Tiefe; infolge erleben wir eine drastische Fragmentierung von Inhalten; Schwierigkeiten damit, Entscheidungen zu treffen und dazu zu stehen. Zu viele Onlinestunden können den Lebensrhythmus durcheinanderbringen. Die Folgen wären Schlafstörungen, hohe Nervosität, Konzentrationsschwäche – und wieder die Folge davon, abnehmende Leistungsbereitschaft.“

      Von Ackern nickte Trové noch einmal zu, wechselte die Moderationskarte und wandte sich jetzt an Steffen Arnold. Irgendwie bekam es der junge Online-Händler hin, seine Hände kurz ruhig zu halten.

      „Herr Arnold, wie viel von dem, was Herr Trové benannt hat, ist neu für Sie?“

      „Ganz ehrlich? Alles.“

      Das nahm ihm Jessica sofort ab. Entsprach der junge Arnold nicht genau dem Typ, den Trové gerade beschrieben hatte? Arnold legte jetzt endlich die Hände auf den Knien ab und spreizte die langen Finger weit auseinander. Seine unbeholfene Gestik erinnerte Jessica ein bisschen an Bastian Pastewka.

      „Sie sind Mitbegründer der ersten Netzgewerkschaft“, wiederholte der Moderator. „Die Redaktion und ich fanden das sehr interessant, und wir freuen uns, dass Sie heute hier sind.“

      Ja, so konnte man es auch ausdrücken. Steffen Arnold musste aufpassen, sich von dem Moderator nicht vorführen zu lassen. Den Boden dafür hatte Trové im Grunde gelegt, indem er versuchte, den Homo Digitalis zu beschreiben. Blieb nur zu hoffen, dass der Medienwissenschaftler auch die Vorteile des Internets in seinem Buch benannte. Ansonsten wäre es doch eine sehr einseitige Betrachtung. Während Trové nach wie vor offen und freundlich in die Runde schaute, hielt Heck seinen Blick meistens gesenkt. Sobald er mal aufblickte, schaute er sofort in Jessicas Richtung, als wartete er nur darauf, ihr endlich etwas an den Kopf werfen zu können. Die Gelegenheit würde er bestimmt bekommen.

      Plötzlich begriff Jessica: Hier war nichts dem Zufall überlassen worden. Nicht nur, dass mit Arnold und Trové ganz unterschiedliche Generationen aufeinandertrafen. Vor allem hatte der Moderator zuerst die beiden in das Gespräch eingeführt. Er hob sich also Jessica und Jürgen Heck für den Höhepunkt der Sendung auf. Es gab keine Von-Ackern-Show ohne Zuspitzung und Angriff. Deshalb war es von Beginn an nicht nur eine Chance gewesen, an der Talkrunde teilzunehmen, sondern auch ein Risiko. Nur ruhig, ermahnte sich Jessica. Nicht provozieren lassen, weder vom Moderator noch von Heck. Auf das Buch aufmerksam machen und immer mal wieder in die Kamera lächeln. Trotzdem stellte sie fest, wie sehr sie dieser ewige Kampf anstrengte, egal ob nun hier im Studio oder vor Gericht.

      Der Moderator richtete sich in seinem Sessel auf und wandte sich abwechselnd an Trové und Arnold. Sie kamen auf globale Märkte zu sprechen, auf politische Ereignisse wie den Arabischen Frühling, der maßgeblich von Facebook beeinflusst worden war, und sie benannten die wunderbaren Möglichkeiten der weltweiten Kommunikation. Unterschwellig klang dabei durch, Trové sei für die neue Technik zu alt und zu langsam. Wie würde er mit diesem Vorwurf umgehen? Jessica versuchte, in Trovés Gesicht etwas zu erkennen. Der Wissenschaftler schmunzelte, blieb locker in seinem Sessel sitzen und fuhr sich mit einer Hand über den Bart.

      „Ja, natürlich. All das bestreite ich nicht. Mir geht es darum, dass wir auch die schwachen Seiten des Mediums kennen, erst dann können wir ausgleichen und Balance


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