Dirndlgate. Jan Schreiber

Dirndlgate - Jan Schreiber


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zu einem neuen Leben sein. Es musste doch gelingen, Familienplanung und Beruf unter einen Hut zu bringen, ohne dass sie ein schlechtes Gewissen bekam. Nach der Fernsehsendung würde sie den nächsten konsequenten Schritt gehen und Sebastian ihre Situation schildern. Ob ihr vielleicht dieses bevorstehende Gespräch so zu schaffen machte?

      Energisch zog Jessica den Schreibtischstuhl zurück und setzte sich. Für die Fernsehsendung konnte sie nichts mehr vorbereiten, deshalb schlug sie Jochen Heinrichs Akte auf. Daneben legte sie ein Blatt Papier und griff nach einem Bleistift.

      In regelmäßigen Abständen ließ sie den Stift über Daumen und Zeigefinger auf das Blatt Papier fallen. Ein helles, hölzernes Geräusch war zu hören, so als würde der Stift jeden Schritt ihrer Verteidigung abzählen. Letzten Herbst hatte sich Heinrich über einen Zeitraum von sechs Wochen gewöhnlich zwischen sieben und acht Uhr abends in den Stadtpark geschlichen. Im Herbstdunkel hielt er sich versteckt, trat plötzlich hervor und zeigte seinen Penis. Er erschreckte vier Frauen. Jugendliche stellten Heinrich am 11. Oktober und verbreiteten sein Foto und seinen Namen sofort im Internet. Unglücklich für Jessicas Mandanten, dass Christine Schanz am 24. September, also knapp drei Wochen zuvor, in der Nähe des Stadtparksees vergewaltigt worden war. Die Polizei hatte intensiv nach dem Täter gesucht, allerdings ohne Erfolg. Plötzlich war Heinrich in die Ermittlungen geraten, und als seine DNA am Körper der Frau gefunden wurde, verschlimmerte sich seine Lage. Trotzdem war Staatsanwalt Steven Jung Anfang März dieses Jahrs gezwungen gewesen, den Tatvorwurf der Vergewaltigung gegenüber Jochen Heinrich zurückzuziehen: Vier Wochen nach den Tests wurde bekannt gegeben, Heinrichs DNA vom Körper der Frau sei nicht identisch mit der Sperma-DNA des Vergewaltigers. Warum hatte es sich der sonst so gewissenhafte Jung so einfach gemacht? Von Anfang an hatte es zwei Spuren von Fremd-DNA gegeben. Es hätte Jung klar sein müssen, dass er es damit vor Gericht nicht einfach haben würde. Gut, wer wie Heinrich seinen Penis im Stadtpark zeigt, dem ist auch eine Vergewaltigung zuzutrauen – war das Jungs Gedanke gewesen? Zusätzlich baute Jung noch auf die Zeugenaussage einer jungen Frau. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht wissen können, dass sich diese Aussage in Luft auflösen würde. Nach und nach war es Jessica gelungen, ihre Verteidigungsstrategie auszubauen. Von Beginn an hatte sie die Tatvorwürfe Vergewaltigung und Exhibitionismus voneinander getrennt. Übrig blieben Heinrichs exhibitionistische Handlungen, und hier würde der Freiheitsentzug zu einer Bewährungsstrafe ausgesetzt werden. Das lag aber nicht nur an Jessica, sondern vielmehr an Heinrich selbst.

      Der Bleistift fiel auf das Blatt Papier. Klack, Klack. Das alles war gar nicht Jungs Art. Es sei denn, Jessica hätte etwas übersehen. War ihr etwa aufgrund der Krise mit Alexander etwas entgangen?

      ***

      Als Alex die Tür öffnete und seinen Kopf ins Zimmer streckte, zuckte Jessica zusammen, so sehr hatte sie sich in Heinrichs Fall vertieft.

      „Schatzi“, sagte Alexander und lächelte. „Ich esse nur einen Happs und gehe dann ins Bett. Ich bin total platt.“

      Jessica nickte und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach elf. Sie stand auf und ging auf ihn zu. Alexander hatte über die Jahre nichts von seiner Strahlkraft verloren. Unter dem weißen Hemd zeichnete sich seine breite, feste Brust deutlich ab. Die graugrünen Augen leuchteten. Auf seinem Gesicht lag etwas Entspanntes. Er hatte noch nicht mal ein schlechtes Gewissen, musste also das Essen total vergessen haben. Ja, er wirkte wie nach einem Saunabesuch.

      Dass sie die Rindersteaks in der Demeter-Metzgerei geholt hatte und dafür durch den halben Stadtpark gelaufen war: Es lag ihr auf der Zunge. Zum ersten Mal hatte sie versucht, die Steaks medium zu braten, und es war ihr gelungen. Jetzt störte sie sich auf einmal an dem tadellosen Äußeren ihres Mannes, sie störte sich sogar an seinem „Schatzi“. Früher hatte er einfach „Jess“ gesagt. Worte, sinnlos, dachte Jessica. Alles würde an seiner glatten Fassade abperlen. Sie hatte so viel auf dem Herzen und sagte jetzt nur: „In der Küche steht was.“

      Alex nickte, schaute auf sein riesiges Smartphone. Wieder kein Erinnern oder Bedauern, gar nichts.

      „Hast du was?“, fragte er.

      „Nein, nichts.“

      Er ließ das Handy in die Hose gleiten, nickte ihr kurz zu und ging. Jetzt drehte er sich noch einmal kurz um und hielt sich eine Hand an die Stirn.

      „Ach, richtig! Die Von-Ackern-Show. Das ist doch morgen, oder?“

      „Ja, morgen.“

      „Du machst dir doch nicht etwa Sorgen deswegen? Nimmst du Toni nicht mit?“

      Er meinte Antonia, Jessicas Assistentin.

      „Nein, die kommt erst am Sonntag aus Thailand zurück.“

      Michael, der externe Mitarbeiter der Kanzlei, würde Jessica begleiten, aber auch das behielt sie für sich.

      „Egal“, rief Alexander überschwänglich, streckte Jessica beide Daumen entgegen und lief dabei gleichzeitig rückwärts. „Du machst das schon.“

      Jessica nickte und fuhr sich mit beiden Händen über die Arme. Sie fühlte die kühlen Wände, dachte an das kaltgewordene Essen, und sie sah Alexander zu, wie er sich von ihr entfernte.

      Kapitel 2

      „Keine Sorge, Frau Dr. Scheffold“, sagte die junge Michelle und fuhr Jessica mit einem Wattepad über die Wangen. „Das ist der übliche Wahnsinn. Ich habe nur wenige Sendungen erlebt, zu denen alle Gäste pünktlich da waren.“

      „Und ich bin extra früh los, um ganz sicher zu gehen.“

      „Vielleicht ist das der Fehler gewesen. Aber kein Problem, ich bin gleich fertig, und dann gehe ich bis zur Studiotür mit. Sie können Ihren Platz gar nicht verfehlen.“

      „So?“

      „Ja, die anderen Gäste sitzen bereits. Es ist nur noch Ihr Stuhl frei.“

      „Oje“, antwortete Jessica. „So was habe ich gar nicht gern.“

      „Wieso nicht? Die wichtigsten Gäste zum Schluss. Passt doch alles.“

      Michelle legte eine Hand auf Jessicas Schulter. Zusammen schauten sie jetzt in den Spiegel.

      „Perfekt.“ Michelle nickte zufrieden. Das stimmte. Sie hatte Jessicas Wangenpartie leicht betont, die Augenbrauen nachgezogen, die Lippen geschminkt und zuletzt das Gesicht gepudert. Jessica sah aus, als hätte es die Vollsperrung kurz vor der Aichtalbrücke und die damit verbundene Aufregung gar nicht gegeben. Die Tür zur Maske flog auf.

      „Beeilung!“, rief der Mann, der Jessica vor ein paar Minuten das Mikrofon angesteckt hatte.

      „Wir kommen“, antwortete Michelle.

      Jessica spürte Schweiß am Rücken und in den Achselhöhlen. Hoffentlich hält das Make-up. Schweiß auf der Stirn bedeutete, dass Schminke in die Augen gelangen konnte, was sie überhaupt nicht vertrug. Die Augen tränten sofort, und das machte die Sache dann nur noch schlimmer. Deshalb verzichtete sie meistens auf Eyeliner.

      Michelle deutete mit einer Hand den Gang entlang.

      „Da vorne ist die Studiotür. Wir sind gleich da. Lassen Sie sich von den Männern nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Viele Frauen schauen auf Sie, Frau Scheffold. Ich lese auch alles von Ihnen.“

      Jessica nickte: „Ich gebe mein Bestes.“

      Michelle sagte das wahrscheinlich nicht ohne Grund. Unglücklicherweise hatte die Gerichtsreporterin Franka Friedrich für heute abgesagt, und an ihrer Stelle kam nun ausgerechnet Dr. Jürgen Heck, Sebastians größter Rivale. Heck würde heute alles unternehmen, um Jessicas Position zu schwächen, so viel stand fest. Aber nicht nur das! Mit Frau Friedrich wäre das Kräfteverhältnis ausgeglichen gewesen. Jetzt saß Jessica einmal mehr inmitten einer Männerrunde. Michelle griff nach der Studiotür und lächelte noch einmal kurz, bevor sie die Tür öffnete. Sofort war ein noch recht junger Mann mit langen Haaren bei Jessica. Wahrscheinlich ein Assistent der Aufnahmeleitung. Sie spürte einen sanften, aber bestimmten Zug an ihrem Arm.

      „Kommen


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