Die Rebellenprinzessin. Anna Rawe
einige Sekunden glaubte ich, Verunsicherung in Raymonds Zügen zu lesen, doch gleich darauf wischte ein zuversichtliches Lächeln alle Zweifel weg und Raymond stand auf.
„Gut“, schloss er, „Dann zeige ich dir jetzt, wo du schlafen kannst.“
Mit einer zuvorkommenden Geste öffnete er die Tür und führte mich hinaus auf den Gang.
*****
Aufgewühlt streifte ich durch den kleinen Raum. Seit Stunden hatte sich nichts getan, obwohl ich es kaum erwarten konnte, diesen Ort endlich zu verlassen. Raymond hatte von Morgen gesprochen, doch ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Noch immer hielt ich mein Smartphone fest umklammert. Es war das erste, was ich getan hatte, nachdem Raymond mich allein gelassen hatte. Ohne auf das Zeichen zu achten, das mir erneut sagte, ich hätte keinen Empfang, hatte ich versucht, meine Eltern zu erreichen, hatte SMS geschrieben, die nie versendet wurden. Ich wusste nicht, wie lange ich so dagestanden – wie oft ich es probiert hatte, bis der Akku schließlich die letzten zehn Prozent erreicht hatte. Ich hoffte, dass ich diese zehn Prozent vielleicht noch brauchen konnte, wenn ich endlich einen Ort mit Empfang finden würde, weshalb ich es schließlich widerwillig ausgeschaltet hatte. Seitdem konnten Stunden vergangen sein – oder auch nur Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten.
Je länger ich über all das nachdachte, desto schlimmer wurde es. Diese altmodische Kleidung und Menschen, die offenbar ohne Strom lebten, Tunnel unter der Erde und eine seltsame Heilerin anstelle eines Notarztes – konnte ich in eine Sekte geraten sein? Und wenn ja, würden sie mich dann wirklich zurück nach Hause bringen? Mein Herz raste bei dem Gedanken an die Alternativen.
Verzweifelt suchte ich nach einer anderen Erklärung, nach einer beruhigenderen Möglichkeit, doch die Bilder dieser Nacht überlagerten alles. Immer wieder tauchten Szenen vor meinem inneren Auge auf. Ich hörte Rubina schreien. Ich sah Blut spritzen, so viel Blut. Und immer wieder hörte ich das Donnern, das Bersten von Holz, das Brüllen der Bestie. Es war grauenhaft. Und unerklärlich.
Was ich gesehen hatte, konnte nicht existieren! Und doch hatte es Grannie fast umgebracht, hatte die Hütte in ein einziges Blutbad verwandelt.
Ich hatte noch nie zuvor so panische Angst verspürt. Panische Angst, es könnte zurückkehren. Panische Angst vor diesen Menschen. Panische Angst an diesem fensterlosen Ort.
Ich raufte mir das Haar, lief immer weiter, Runde um Runde durch den Raum, weil ich wusste, dass Stillstand die Bilder zurückbringen würde, die Gedanken, die dunklen Finger der Angst um mein Herz.
Wieder und wieder setzte mein Verstand aus, während ich nach Erklärungen suchte, nach einer Lösung, nach irgendetwas, das all das ungeschehen machen konnte.
Noch nie zuvor hatte ich all die Kisten und das Chaos daheim so vermisst. Noch nie zuvor hatte ich mir so sehnlich die Arme meiner Eltern gewünscht, die sich beschützend um mich legten. Noch nie zuvor hatte ich so dringend nicht allein sein wollen.
Doch in all dem Chaos stach dieser eine Gedanke immer deutlicher hervor. Ein Gedanke, für den ich Jahre zu alt war. Ein Gedanke, der mich mit solcher Furcht erfüllte, dass ich den Atem anhielt. Ein Gedanke, der alles erklären könnte. Wenn ich ihn nur ließe …
„Endlich begreift Ihr.“ Die knarzige Stimme ließ mich vor Schreck zusammenzucken.
„Wer – “ Suchend sah ich mich um, doch da war niemand.
„Wenn Ihr erlaubt, mich vorzustellen?“
Die Stimme kam vom … „Heilige – “ Die nächsten Worte blieben mir im Hals stecken. Auf dem Tisch gegenüber saß ein Frosch. Ein kleiner, grüner Frosch.
„Sir Henry Irvin Edgar Wallace“, stellte er sich galant vor, „Aber für Euch, Mylady, nur Wallace.“
Er deutete eine Verbeugung an. „Ich bin höchst erfreut, endlich Eure Bekanntschaft machen zu dürfen.“
Ich war kurz davor, einen Herzinfarkt zu erleiden. „Wie zur Hölle –“
Ruhig bleiben … Ich schloss die Augen und zählte.
Eins. Ich musste verrückt geworden sein.
Zwei. Sprechende Frösche existierten nicht.
Drei. Ich öffnete die Augen und der Frosch grinste zu mir herauf.
„Ihr könnt die Augen so oft schließen wie Ihr wollt, Mylady, aber davon werde ich nicht verschwinden.“
Ich schnappte nach Luft. Das war vollkommen unmöglich. Das widersprach allem, einfach allem!
Und doch passte es so perfekt in das absurde Puzzle der letzten Nacht …
„Ihr habt die richtigen Schlüsse gezogen, Mylady“, kommentierte der Frosch inzwischen, „Scheut Euch jetzt nur nicht, die Tatsachen zu akzeptieren, die diese Schlüsse mit sich bringen.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Das ist nicht wahr“, sagte ich laut. Weder der Frosch noch diese absurden Gedanken verschwanden.
„Das ist nicht wahr“, wiederholte ich, „Das kann nicht wahr sein, nichts davon!“
„Wollt Ihr wirklich leugnen, dass ich hier sitze? Direkt vor Euch?“ Die riesigen Froschaugen funkelten provokant. „Ihr wisst doch genauso gut wie ich, was mit Euch passiert ist …“ Er machte eine kurze Pause, grinste. „… oder besser gesagt: Wo Ihr Euch gerade befindet?“
Fassungslos sah ich ihn an.
„Nein“, hauchte ich, „Nein, das ist nicht – Ich bin nicht …“
„Und ob Ihr hier seid, Mylady.“ Altklug spazierte der Frosch über den Tisch. „Ihr seid hier, mitten in Ciaora. Genauer gesagt neuneinhalb Meter unter dem moosigen Boden des Foraoise gan Deireadh, des unendlichen Waldes. Wobei Euch ja offensichtlich eher die Tatsache interessiert, wo Ihr nicht mehr seid – in Eurer Welt.“
„Ihr lügt!“ Der Schrei entrang sich meiner Kehle so selbstverständlich wie das Amen. „Ihr seid nicht mehr als eine Halluzination, eine Einbildung – noch dazu eine schlechte!“
„Also das ist nun wirklich unerhört!“ Der Frosch hatte die dürren Arme verschränkt und war wie erstarrt vor mir stehengeblieben. „Wie könnt Ihr es wagen, mich einen Lügner zu nennen? Oder eine Halluzination?“ Aufgeregt erhob er die Arme zum Himmel. „Ich weiß noch nicht einmal, was von beidem die größere Beleidigung ist.“
Er schnaubte. „Aber gut! Von mir aus! Wenn Ihr meine Hilfe nicht wollt, werde ich Euch nicht länger belästigen.“
Noch bevor seine letzten Worte bei mir angekommen waren, erschien wie aus dem Nichts ein eigenartiger lilafarbener Nebel, der immer dichter wurde, bis er den Frosch schließlich ganz umhüllte.
„Undankbares Pack!“, glaubte ich ihn noch murmeln zu hören, dann lichtete sich der Nebel und der Frosch war wie vom Erdboden verschluckt.
Völlig durcheinander sank ich auf die Pritsche.
Das konnte nicht sein! Das alles konnte nicht die Wahrheit sein! Und doch war es die einzig logische Erklärung für alles, was in der letzten Nacht passiert war – für die Hütte ohne Strom, für die Kleider, die Heilerin und diese Tunnel, für den sprechenden Frosch – und für dieses Wesen, diese Bestie.
Ich wischte mir die wirren Strähnen aus den Augen und erhob den Blick zur Decke des Raumes. So viel Stein. Und darüber eine andere Welt? War das die Antwort, nach der ich gesucht hatte?
Ich war erstaunt, dass ich den Gedanken tatsächlich zuließ. Die Vorstellung allein war absurd, doch irgendwie passte alles zusammen. Es war so einfach, wie nur die Realität sein konnte.
Eine andere Welt …
Doch Raymond hatte versprochen, mich zurück nach Calgary zu bringen. Die Erinnerung entzündete einen Funken in meinem Inneren, der nur Sekunden darauf in Zweifel entflammte. Denn ein klitzekleiner Teil tief in mir wusste, dass nichts,