Dich habe ich mir nicht gewünscht. Tara McKay
Kapitel 4
Das gute Gefühl, das ich auf dem Feenhügel hatte, ist für die nächsten Tage erstmal weg. Es war sehr kurzlebig und ich musste es spätestens nach Matteos Anruf zu Grabe tragen, aber ich erinnere mich ab und zu daran und hoffe, dass es wiederkommt.
Eigentlich wollte ich nochmal den Hügel hinaufsteigen, dieses Mal mit dem richtigen Schuhwerk ausgestattet. Doch stattdessen kämpfe ich mit Emma, die realisiert hat, dass die Einkaufmöglichkeiten in Sheemore begrenzt sind und mich überreden möchte, mit ihr nach Edinburgh zu fahren, flüchte vor ihr mit Nathan an den Strand und überlasse sie ihrem Großvater, der sich dazu bereiterklärt, mit ihr ins nahegelegene Kirkcaldy zu fahren. Der Ausflug wird ein Desaster werden, wenn Emma herausfindet, dass es dort nicht viele Läden gibt, wo sie ihr Taschengeld auf den Kopf hauen kann, aber noch habe ich eine Verschnaufpause von ihren ewigen Nörgeleien.
Nach einem Vormittag, angefüllt mit Burgenbau an einem fernab gelegenen Strand, laufe ich mit Nathan an der Hand in die Stadt, lasse ihn die Fischerboote bewundern und genieße selbst die frische Brise am Hafen. Ich blicke zu dem Eckhaus in dem das Fairytale gelegen ist und denke an die Unterhaltung, die ich dort mit Kayleigh hatte.
Das Da Paola war sehr beliebt und viele waren traurig, als es zumachte.
„Soll ich dir mal das Restaurant zeigen, dass deiner Nonna gehört hat?“, höre ich mich selbst sagen.
Nathan ist für alles schnell zu begeistern, deswegen nickt er auch sofort. Ich ziehe in mit mir mit die kleine, enge Gasse entlang bis zu der großen Fensterfront, hinter der man im Dunkeln die Einrichtung der Trattoria erkennen kann.
„Wie bei Luigi“, meint Nathan fachmännisch nach einem sorgsamen Blick.
Luigi ist ein Bekannter von Matteos Eltern, der ein gut gehendes Restaurant in Rimini führt. Es hat genau den gleichen antiquierten Charme wie das Da Paola, das stimmt. Matteo hat neben seinem Betriebswirtschaftsstudium in dem Restaurant früher oft gekellnert, um ein wenig Geld dazu zu verdienen. Damals wohnten wir noch in Rimini in der Nähe seiner Eltern und als junges Ehepaar waren wir eigentlich chronisch pleite, zumal ich mit einem Kleinkind zuhause nichts dazuverdienen konnte und mein Mann das auch nicht wollte. Luigi war wie ein großzügiger, netter Onkel zu uns, der Matteo ständig ein bisschen mehr Geld zusteckte, als er eigentlich verdient hatte, weswegen wir sein Restaurant auch Jahre nach Matteos Studienzeit immer wieder gerne besuchten.
„Ja, ein wenig wie bei Luigi“, seufze ich.
„Luigi soll kommen. Grandpa kann keine Pizza machen.“
„Aber ich habe doch gestern eine Pizza gekauft.“
„Bäh!“
Stimmt. Der Lieferdienst war grauenhaft. Das Problem in Schottland ist, dass es viele Restaurants gibt, die behaupten italienisches Essen anzubieten, aber für echte Italiener ist es alles, nur nicht das.
„Deine Nonna konnte das auch. Und ihre Pasta…“ Ich schlucke. „Bei deiner Nonna war Essen immer ein Stückchen Liebe.“
„So wie bei dir, Mamma.“
Nathans Augen strahlen mich an wie Tausend-Watt-Scheinwerfer und da fängt allmählich eine Idee in meinem Kopf zu reifen an. Ich denke an Kayleighs Worte und an das, was Nathan gerade gesagt hat, traue mich aber noch nicht so recht, mein Hirngespinst richtig weiter zu spinnen.
Das ist eine Nummer zu groß für eine kleine Hausfrau und Mutter aus Bologna, sagt die Stimme meines inneren Kritikers.
Den kenne ich nur zu gut. Blöder Kerl! Er redet mir seit Jahren ständig ein, dass ich dies oder jenes nicht kann und gar nicht erst versuchen soll. Er hört sich ein wenig wie mein Schwiegervater an. Was bestimmt nur Zufall ist – ehrlich! Aber seltsamerweise spricht er oft Italienisch oder wenigstens Englisch mit einem richtig fiesen italienischen Akzent.
Ach, halt die Klappe! Ich kann alles schaffen, was ich will.
Eindeutig mein jugendliches Ich, die Teenager-Anna. Mit dem Kopf durch die Wand. Ich hatte nicht nur ein gesundes Selbstbewusstsein, sondern auch einen starken Willen.
„Ich habe Hunger.“
„Hm?“ Ich bin mit meinen Gedanken meilenweit entfernt, als Nathan an meinem Shirt zupft.
„Hunger!“
Autofahren und Hunger, das sind die zwei hochexplosiven Themen bei Nathan, der ansonsten recht entspannt ist. Beim Autofahren quengelt er gerne bis zum Abwinken. Noch schlimmer wird er, wenn er Hunger bekommt. Als gute Mutter habe ich eigentlich immer irgendetwas für diesen Fall dabei. Eigentlich. Wir haben unseren Snack schon am Strand eingenommen und jetzt ist Mittagessenszeit. Nathan funktioniert wie ein Uhrwerk was seine Essenszeiten betrifft. Frühstück sofort nach dem Aufstehen, einen Snack so gegen 9 Uhr, Mittagessen folgt spätestens um 12 Uhr. High Noon. Und ein rascher Blick auf die Fitbit sagt mir, dass wir diese Zeit schon weit überschritten haben.
Na toll! Jetzt ist schnelles Handeln gefragt. Ich sehe die Straße hinunter, wo es zum Fairytale geht, aber das dürfte zur Mittagszeit voll sein und es dauert zu lange, bis wir dort etwas bekommen. Zudem sollte es etwas sein, das richtig schnell ins Blut geht. Graham‘s ist meine einzige Rettung. Eine Bäckerei führt Waren mit sättigenden Kohlehydraten und schnell wirkendem Zucker.
Ich denke nicht lange nach, sondern ziehe den nun etwas lauter quengelnden Nathan hinter mir her, der irgendetwas davon brabbelt, dass ich ihm Pizza machen soll. Und zwar jetzt!
Er schafft es sogar, sein Quengeln zu einem lauten Jaulen zu steigern, bis wir am Hafen angekommen sind, wo mitten in der Häuserzeile, die den kleinen Marktplatz säumt, die Bäckerei meiner ehemals besten Freundin ist. Wir ernten ein paar missbilligende, aber auch ziemlich neugierige Blicke und ich würde es bevorzugen, wenn ich jetzt die Fähigkeit einer Schildkröte hätte, meinen Kopf einzuziehen. Rasch betrete ich mit meinem feuerrot angelaufenen Sohn den Laden, der bei dem Anblick der reichhaltigen Auslage fast augenblicklich verstummt und mit Verzücken das Angebot studiert. Ich atme auf.
Ich bin mir nicht sicher, ob mich Jo zuerst entdeckt, oder ich sie. Sie ist allerdings auch ganz alleine im Laden und außer mir steht nur noch ein Pärchen am Verkaufstresen, das sich darüber streitet, ob Blaubeermuffins ob der Beeren denn nun gesünder wären als Schokomuffins und sich dementsprechend nicht entscheiden kann.
Nathan ist ziemlich egal für was sich das Ehepaar entscheidet. Er hat einen Cookie in Form des Gesichtes von Spiderman gesehen, auf den er nun begeistert zeigt.
„Den!“
Das ist der Moment, in dem Jo und ich uns ansehen. Ich schwöre, sie sieht keinen Tag älter aus als an unserer Abschlussfeier. Ich wünschte, sie könnte das Gleiche auch von mir sagen, aber mir ist ziemlich bewusst, dass das nicht stimmt. Ich habe mir damals nicht die Haare platinblond gefärbt und ich war zwar schlank, aber nicht so dürr wie jetzt. Außerdem weiß ich, dass mich die letzten Wochen einige Jahre gekostet haben, die ich vorher gut gemacht hatte mit teuren Pflegecremes.
„Anna?“
Ich bringe ein Nicken zustande, als Jo den Verkaufstresen umrundet und mich völlig überraschend in die Arme nimmt.
So war sie schon immer. Unkompliziert und nie nachtragend. Und ziemlich direkt.
„Hast du mich die letzten Jahre gemieden wie die Pest oder warum sind wir uns nie über den Weg gelaufen? Naja, bis auf die Beerdigung.“ Sie guckt mich kurz mitleidig an, dann fragt sie weiter: „Was machst du hier?“
Es ist schwierig auf alle Fragen zu antworten, wenn ein Vierjähriger an deiner Hand zieht, um dir einen Spiderman-Cookie zu zeigen und immer wieder „Den! Den! Den!“ ruft.
„Entschuldige, aber Nathan wird zum Hulk wenn er sein Essen nicht pünktlich bekommt.“
„Kein Problem, junger Mann“, meint Jo, schwebt in ihrer elfenhaften Art – von der sie nicht einmal weiß, dass sie sie besitzt – wieder hinter den Tresen und übersieht geflissentlich das Ehepaar, das eigentlich vor uns dran