Violet - Verfolgt / Vollendet - Buch 6-7. Sophie Lang
wo du entschwindest, warten, wachen und da sein, wenn du zurückkehrst. Egal, wie lange es dauert. Und wenn es Awokyn ist, die du triffst, dann sag ihr, dass es mir leid tut.«
Ich schlucke schwer, sehe aber keine Traurigkeit, sondern Wissen, in ihrem Gesicht aufblitzen.
»Danke Hope, aber ich habe nicht vor, euch für länger zu verlassen. Wenn ich keinen lebenden Indianer befragen kann, dann tun es vielleicht auch Bücher«, flüstere ich und blicke direkt in ihr Gesicht, das mich schelmisch anfunkelt.
»Ich kenne einen Ort, wo es viele Bücher gibt.«
»Dann lass uns dort hingehen«, sage ich und dann kommt sie mir ganz nahe. Ich weiche keinen Millimeter zurück und unsere Lippen treffen sich und wir versinken in einem zärtlichen Kuss, der sich wie ein unendlich kostbares Geschenk anfühlt und der etwas zu lange andauert, als es unter besten Freundinnen üblich wäre. Unsere Lippen lösen sich nur zögerlich voneinander und unsere glühenden Gesichter wenden sich wieder dem unbeschreiblichen Ausblick, dem Indian Summer zu. Wir bleiben eine Weile nebeneinander sprachlos sitzen, vermutlich weil keiner von uns beiden diesen Kuss so richtig einzuordnen weiß.
»Du schmeckst sehr gut«, kichert Hope schließlich. »Ich kann Adam gut verstehen, dass er nicht die Finger und seine Lippen von dir lassen kann. Du bist kein verletzliches kleines Mädchen, das die ganze Zeit beschützt werden muss. Du bist eine echte Bestie. Eine echt süße Bestie, die einem, mal eben,
die Kehle aufreißt und mit links das Leben aussaugen kann.«
Ich schweige für ein paar Sekunden, die sich wie eine Unendlichkeit anfühlen, so als wäre ich gerade weggetreten und befände mich nun doch in der Astralwelt. So als wäre der Kuss gar nicht echt gewesen, aber dann höre ich Hope immer noch kichern und weiß, dass nur ein Wimpernschlag vergangen ist. Da war es wieder. Hopes Lippen kommen mir so bekannt vor. So vertraut, als hätten wir uns nicht das erste Mal geküsst.
Sie ist Adams Schwester, denke ich dann. Ihre Lippen sind sich eben sehr ähnlich. Und dann kann ich ihrer zurückgekehrten, unbekümmerten Fröhlichkeit nicht entwischen und wieder steckt sie mich an und kurz darauf kugeln wir uns lachend über die bunten Blätter auf dem Boden. Ich liege auf dem Rücken, Hope neben mir und wir halten uns an den Händen wie zwei verliebte Teenager. Mein Blick ist unkonzentriert, verschwimmt, entschwindet zwischen der Farbenpracht des Blätterdachs.
»Danke für die netten Komplimente.«
»Immer gerne. Ich stehe definitiv auf Jungs, aber seitdem ich dich kenne auch ein bisschen auf Mädchen«, meint Hope schließlich.
»Uns verbindet so viel«, beginne ich. »Asha hat mich geküsst, kurz bevor sie aus dem Skygate geflohen ist. Asha ist meine Zwillingsschwester und du bist auch wie eine Schwester für mich.«
»Ja, Blutsschwestern«, sagt Hope und erinnert mich mit ihren Worten an die Szene damals im Wald, als ich sie fast getötet habe und ich von ihrem Blut gekostet habe. »Von was werden die Texte handeln, die du schreibst?«, fragt sie glücklich und gedankenverloren.
Ich zögere. »Davon, wie ich die Welt sehe. Davon, was die Welt in Wirklichkeit ist und wie es für die Menschen weitergeht. Es wird wie ein Tagebuch sein, nur ohne persönliche Empfindungen.«
»Also eine Dokumentation der Ereignisse?«
»Ja, denke schon.«
»Wie langweilig«, sagt Hope und lacht wieder.
Ich grinse. »Langweilig?«
»Wer will das schon lesen? Du solltest eine Geschichte schreiben. Eine, die man den eigenen Kindern abends vorliest, bevor sie zu Bett gehen. Eine, die spannend und schön und traurig ist. Aber auch eine Geschichte, bei der sich jeder fragt, ob sie nicht wahr sein könnte.« Ich liege still da, lausche Hopes Ausführungen und je länger ich zuhöre, desto sicherer werde ich mir, dass das eine gute Idee ist.
»Ja, das ist es. Das könnte ich wirklich so machen«, sage ich schließlich.
»Schön, ich sagte doch, ich kann dir beim Schreiben helfen. Und hast du schon einen Titel für deine kleine, herzergreifende Geschichte? Einen Titel, der sich einprägt, der einen schon fesselt, bevor man angefangen hat zu lesen.«
»Ja, ich denke schon«, sage ich und bekomme eine Gänsehaut.
»Rücks raus!«
»Ich werde sie Das Ende nennen.«
Für eine Sekunde sind wir beide todernst, dann schlägt sie mir auf die Schulter und prustet los. Ich finde keine Worte dafür, wie sehr ich den Klang ihrer gottgegebenen Stimme und ihres glockenhellen Lachens liebe.
Kapitel 2
Stunden später stehe ich vor der natürlichen Felshöhle, die sich ganz in der Nähe von Hopes altem Zufluchtsort, einer Blockhütte mitten in den Wäldern, befindet. Die Höhle ist jetzt ein Lazarett. Eine seltsame Funktion für einen dunklen, feuchten, kalten Raum unter der Erde. Wir benötigen Platz für die Verletzten und Schutz vor fremden Blicken, ist wohl die Erklärung, die ich jedem geben würde, der diese Entscheidung in Frage stellt.
Dort im Innern hält sich Asha Stunde um Stunde, Tag und Nacht auf. Sie lässt die verletzten Gelöschten und Fischers Vollstrecker nicht im Stich. Und sie sucht fieberhaft nach einem Heilmittel. Irgendetwas, das Trish helfen könnte, sich nicht in einen Schatten zu verwandeln.
Flavius weicht kaum von Trishs Seite. Er ist unermüdlich. Er liebt Trish. Er würde alles tun, um ihr zu helfen, doch er ist machtlos. Er kann nur zusehen und hoffen, dass Asha niemals aufgibt.
Vor wenigen Minuten sind Gouch und Kristen eingetroffen. Gemeinsam mit einer Handvoll Jungs aus der Forschungssektion laden sie schweres Gerät und Kisten mit Lebensmittel, Ausrüstung und Kleidung ab. Eine neue Lieferung aus dem Kapitol. Ein Außenstehender würde es stehlen nennen. Aber ist es Diebstahl, wenn es die nicht mehr gibt, denen die Sachen einst gehörten? Wenn es niemanden außer uns mehr gibt, der etwas damit anfangen kann? Wir fliegen nur bei Tageslicht ins Kapitol und verlassen es vor Einbruch der Nacht. Jeder hier in unserem Lager fürchtet sich vor den Schatten und ich bin da keine Ausnahme.
Gouch hat den Helikopter einen halben Tagesmarsch von unserem Standort entfernt gelandet. Das machen wir immer so. Flavius hat sich etwas einfallen lassen, damit er nicht so leicht vom Himmel aus zu entdecken ist. Wir wissen nicht, wem wir trauen können. Drohnen sicherlich nicht. Ich denke, wir sind auf uns allein gestellt. Es ist zweifelsfrei eine schwierige Zeit.
Dass der Helikopter so weit von unserm Lager entfernt ist, ist also eine notwendige aber auch sehr ermüdende Sicherheitsmaßnahme. Die Ausrüstung, die sie heute hergeschafft haben, stammt zu großen Anteilen aus Kristens komischem Schneckenhaus in Sektion 0. Keine wirklich schönen Erinnerungen. Ich betrachte die hübsche Frau und weiß meine Gefühle ihr gegenüber nicht richtig einzuordnen. Soll ich sie hassen für das, was sie mit mir gemacht hat oder dankbar sein dafür, dass ich weiß und mitreden kann, wie es sich anfühlt, gelöscht und programmiert zu werden.
Wie auch immer, wir haben uns nun dazu durchgerungen, die blauhaarige Frau in unserem Team aufzunehmen. Sie überzeugt uns mit ihren Worten und Handeln, dass sie kooperieren will, dass wir im Grunde die gleichen Ziele verfolgen. Wir wollen alle überleben. Aber ich fühle, dass sie auch nach etwas anderem strebt und manchmal habe ich die Befürchtung oder ist es eine Vorahnung, dass sie uns alle ins Verderben führen wird. Ginge es nach Hope, dann hätten wir sie längst zum Teufel gejagt. Die zwei hassen sich abgrundtief und machen daraus kein Geheimnis.
Ich weiß, dass Kristen jeden sich bietenden Augenblick erhascht, um in Adams Nähe zu sein. Sie will ihn zurückerobern, für sich haben, ihre alte Beziehung zurück haben. Ich sehe das in ihren Gesten, ihrem falschen Lachen, in ihren Augen, wenn sie mit ihm spricht. Manchmal ertappe ich sie dabei, wie sie mich taxiert. Ich könnte nicht sagen, dass ich mich mit solchen tödlichen Blicken auskenne. Vermutlich ist es der Urinstinkt jeder Frau, zu fühlen, wenn sich eine Rivalin in Schlagnähe befindet. Ich stehe zwischen ihr und Adam und diese Gewissheit macht mir Angst. Gut, dass ich nicht zu schlafen brauche, denn ich traue ihr