Die Chroniken von 4 City - Band 4. Manuel Neff
auszuweichen.
»Ich habe einmal darüber gelesen. Es nennt sich Schamgefühl«, gestehe ich und diese ganz neue Emotion steigt langsam in mir auf. Ich kreuze meine Beine und nehme langsam die Arme vor meine nackten Brüste. Scham fühlt sich seltsam an.
»Stiff scheint die Begegnung mindestens genauso unangenehm zu sein wie mir.
»Ich ... ich ... ich habe Seife gefunden«, höre ich ihn stottern und er reicht mir welche hinter seinem Rücken. Ich nehme sie und flüchte zurück zu Reico.
»Wo warst du denn?«, fragt sie, der das kalte Wasser nichts auszumachen scheint.
»Kurz weg. Seife holen«, piepse ich verdruckst. Nach ein paar Versuchen schaffe ich es schließlich doch noch, mich mit dem kalten Wasser anzufreunden. Eine weitere Erinnerung an mein früheres Leben, ein längst vergessen geglaubter Moment an meine Geburtsstätte, bleibt dieses Mal jedoch aus. Die Bäume, die Natur und die Forschungseinrichtung sind noch immer in meinem Kopf und ich kann sie abrufen, wenn mir danach ist. Es verhält sich so, wie Myo es gesagt hat. Zuerst kommen die Emotionen und dann die Erinnerungen.
Myo?
Meine Gedanken kreisen einige Zeit um sie. Ich kann es irgendwie nicht glauben, dass sie mit den Steamborgs unter einer Decke stecken soll. Ich vermisse sie sogar ein bisschen.
»Sauber«, flötet Reico mit einem Mal, hüpft unter der Dusche hervor und schwebt wie eine Tänzerin mit einem Lächeln vorüber.
Ich lasse das Wasser noch ein wenig über meinen Körper rinnen und sehe dem Schaum dabei zu, wie er von dem Abfluss verschluckt wird. Eine schwere Müdigkeit befällt meinen Körper. Ich muss kurz in die Knie gehen und mich dort unten in der Hocke erholen. Ich schaffe es, meine Augen offen zu halten und die auf mich einstürzende Schwindelattacke abzuwehren. Nach und nach erhole ich mich wieder, aber der Energieverlust ist dennoch deutlich spürbar.
»Ich glaube, ich habe Frostbeulen«, sage ich zu Reico, die ich ein paar Minuten später bei den Spinden wiederfinde.
»Das ist eine Gänsehaut und nicht Frostbeulen. Ich kann so etwas zum Glück nicht bekommen. Temperaturen nehme ich zwar wahr, aber eine Körperreaktion bleibt bei mir aus. War ziemlich kalt, oder?«
»Saukalt, um genau zu sein.« Wir schauen uns an und müssen beide kichern.
»Sieh mal, das müsste deine Größe sein«, freut sie sich. »Und es ist viel schöner als das, was Stiff für uns ausgesucht hat.« Reico hält mir frische Unterwäsche und etwas Rosarotes unter die Nase. Beim Entfalten entpuppt es sich als ein Kleid.
Wir machen uns hübsch. Reico hat ein schwarzes Kleid angezogen, das ihr bis zu den Knien reicht und die Gesamtheit ihrer Zierlichkeit gut zur Geltung bringt. Sie ist wirklich attraktiv mit ihren blauen Haaren und den riesigen, veilchenblauen Augen. Und in dem schwarzen Kleid und der weißen Schürze sieht sie aus wie frisch aus dem Ei gepellt.
Allerdings fühlt sie sich auch sichtlich unwohl. Denn ihre Beine verschlagen sich unter dem knielangen Kleid krampfhaft zu einem X. Sie ähnelt mehr denn je einem kleinen Mädchen, das sich eben verlaufen hat. Ich lächle und sie entspannt sich etwas. Ihre runden, großen Augen blinzeln unschuldig und leicht zu mir herauf. Meine Lippen verformen sich zu einem unverblümten Lächeln. Sie beginnt sich mit ihrem neuen Outfit zu arrangieren.
Ich hingegen habe mich in das altrosa Tüll-Kleid gezwängt, das bis zu meinen Brüsten von einem weinroten, üppig verzierten Stahl-Korsett gehalten wird. Es glänzt matt in dem milden Licht des Umkleideraums. Reico sieht mich an und grinst.
»Sieht wunderschön aus. Es betont perfekt die geschmeidigen Kurven deines Körpers, ist aber auch bestimmt sehr unbequem.«
»Du sagst es!«
»Wo hast du die Kleider denn gefunden?«, frage ich.
»In den Spinden. Da gibt es auch noch andere Sachen.«
Wir treffen Stiff wenig später. Er hat die Verkleidung zu einem Steamborg abgelegt und gegen eine graue Uniform eingetauscht. Jetzt sieht er wirklich wie ein Soldat oder Wachmann aus.
Stiff staunt nicht schlecht, als wir in blauen Trainingsanzügen aus dem Umkleideraum kommen.
»Dachtest wohl, wir verkleiden uns als Menschen?«, frage ich und grinse ihn an. »Wir wollen vor dem Abendessen noch ein bisschen Sport machen. Das ganze Herumlaufen in der Stadt hat die Beine müde gemacht. Ich muss mich ein bisschen bewegen.«
»Aha, warum habt ihr dann schon geduscht?«, ist das Einzige, was er über die Lippen bringt.
»Hey, immer schön cool bleiben.« Ich schaue Reico ratlos an. »Er soll die Nerven behalten«, erklärt sie mir und ich bin froh darüber, nach und nach meinen Wortschatz zu erweitern. Ich stelle fest, dass sich nicht alles aus Büchern erlernen lässt.
»Du hast es uns befohlen. Schon vergessen? Egal, dann duschen wir eben noch einmal. Auf zum Kampftraining«, posaunt Reico, rennt los und zerrt eine Kiste mit Kunststoffkegeln aus dem Geräteraum. Die Kegel funktioniert sie kurzerhand in Wurfgeschosse um.
»Für deine zierliche Gestalt kriegen die Dinger ein ganz schönes Tempo drauf«, meint Stiff, der es sich auf den Matratzen bequem gemacht hat und uns beobachtet. Ich weiche den Kegeln mit Leichtigkeit aus. Einmal kurz ducken, mal ein Schritt nach links oder rechts oder den Kopf zur Seite bewegen. Viel mehr ist nicht nötig.
»Hey du da?«, wendet sich Reico an Stiff. »Hilf mir mal!« Mit einer zusätzlichen Kiste voller Baseballs bemühen sie sich nun zu zweit, mich zu treffen. Sie haben sich entgegengesetzt voneinander positioniert, um es mir schwerer zu machen, und tatsächlich fordert mich das Geschicklichkeitstraining nun doch schon mehr heraus. Meine Ausweichmanöver scheinen instinktiv zu erfolgen. Ich muss nicht überlegen, was ich tue. Es passiert einfach. In einem Augenblick, in welchem zwei Bälle und ein Kegel in kurzem Abstand auf mich zufliegen, geschieht es jedoch schon wieder.
Ich finde mich wie aus heiterem Himmel in einem quadratischen Raum wieder und sehe mich zwei metallenen Klingen gegenüber, die sich wie Rotorblätter durch den Raum auf mich zu fräsen. Eine Erinnerung, die sich anders anfühlt als die unter der Dusche. Während sich das Erlebnis von den Bäumen und der Forschungseinrichtung Äonen weit entfernt angefühlt hat, ist es jetzt so, als wäre diese erst kürzlich passiert. Es muss sich um eine Erinnerung aus einem der jüngst zurückliegenden Zyklen handeln.
BAM!!
Ein Baseball trifft mich mitten auf die Stirn. Verdammt, sind die Dinger hart. Ich torkel einen Schritt rückwärts und werde mir der Sporthalle wieder bewusst. Reico wirft weiter mit Kegeln nach mir, die mich allesamt verfehlen. Stiff hat aufgehört mich zu beschießen. Statt sich zu freuen, getroffen zu haben, sieht er besorgt aus.
»Hör doch mal auf!«, schreit er Reico an. »Siehst du denn nicht, dass sie verletzt ist?«
»Was ist los?«, fragt sie.
»Mit Karma stimmt etwas nicht.« Er kommt auf mich zu. »Alles okay bei dir?«, fragt er sachte und als er direkt vor mir steht, berührt er meine Stirn dort, wo mich der Baseball getroffen hat. »Das gibt eine dicke Beule. Tut mir leid.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich bin selbst schuld.« Ich setze mich auf den Boden und umklammere mit beiden Armen meine Beine.
»Was ist passiert?«, fragt Reico.
»Stiff hat mich mit einem harten Ball am Kopf getroffen. Das ist los.«
»Das habe ich nicht gemeint. Ich frage mich, wie das passieren konnte? Du scheinst abwesend gewesen zu sein. So als ob dein Körper hier war, aber du selbst warst ganz wo anders«, meint Reico nachdenklich.
»Das ist aber philosophisch«, meint Stiff, der sich jetzt zu mir auf den Boden gesetzt hat.
»Oh, es wird schon ganz dick«, ergänzt Reico mit einem amüsierten Blick auf die pochende Stelle. »Du siehst aus wie ein Einhorn.«
»Geht es einigermaßen?«, fragt Stiff und schaut mir in die Augen. Die Farbe seiner Iris ist grün hinter