Die Chroniken von 4 City - Band 4. Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 4 - Manuel Neff


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eine Geste der Ratlosigkeit. Schultern hoch, Unterarme angewinkelt, Handflächen Richtung Himmel, wo der Dampf und der Nebel an Helligkeit verlieren. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Es wird Nacht werden, bis wir im Zentrum von 4-City ankommen.

      »Ab hier müssen wir vorsichtiger sein«, warnt uns Stiff eine gute Stunde später.

      »Warum das denn?«

      »Das Zentrum von 4-City ist nicht ohne Grund von einer Mauer umgeben. Die Menschen schützen sich vor den Clans der Schrottsammler. Diese schrecklichen Kreaturen sind überall verstreut. Ausgestoßene. Gesetzlose. Bestien. Halb Mensch, halb Tier. Sie sind die Ausgeburt der Hölle, vergewaltigen Frauen, töten Kinder und fangen Männer, um sie in ihren Arenen bis zum Tod kämpfen zu lassen.«

      »Das ist ja so aufregend. Genauso wie einst bei den mächtigen Gladiatoren im alten Rom«, sage ich begeistert und merke erst, als es zu spät dafür ist, dass meine vor Staunen und Entzücken zitternden Worte ungewollt meine Lippen verlassen haben.

      »Hört sich so an, als hättest du keine Angst.«

      »Warum sollte ich?«

      »Vergewaltigen? Töten? Gefangener zu sein und sich unter dem Johlen und Gebrüll von Schrottsammlern die Kehle aufschlitzen zu lassen?«

      »Du hast vollkommen Recht! Eigentlich sollte ich Angst haben. Gut, dass ich so eine gefühlslose Schaufensterpuppe bin.«

      »Oh ja, gut für dich!«, betont Stiff. Ich blicke kurz zu Reico, zwinkere ihr zu und verdrehe meine Augen. Sie muss lauthals loslachen, was natürlich nicht in meiner Absicht lag. Zum Glück verstummt sie genauso schnell wieder.

      »Also was schlägst du vor?«, frage ich brav unseren Anführer.

      »Es gibt mehrere Schrottsammlerclans, die um den Ring der Innenstadt ihre Lager aufgeschlagen haben. Normalerweise bringen sich die Schrottsammler gegenseitig um. Wenn es jedoch darum geht, die Menschenstadt zu belagern, dann machen sie eine Ausnahme. Gott steh uns bei, falls sie eines Tages einen einzigen Master haben sollten, der alle Clans vereint. Sie sind uns zahlenmäßig weit überlegen.«

      »Zurück zu meiner Frage. Was ist dein Plan?«

      »Wir schleichen uns an ihnen vorbei.«

      »Oh, so wie in der Kirche? Dann brauchen wir ja noch Tage, bis wir ankommen.«

      »Ja, wenn es sein muss«, lächelt Stiff, doch dann verzieht sich sein Gesicht plötzlich zu einer Grimasse. »Nein! Nein, nicht so wie in der Kirche! Ihr macht genau das, was ich euch sage und keine eigenen Sachen.«

      »Verstehe, wir sollten dieses Mal besser auf dich hören, nicht dass du noch als Gladiator endest«, sage ich ernst. Reico vermutet aber nur wieder einen sarkastischen Scherz hinter meiner Andeutung und lacht schon wieder so laut und plötzlich los, dass Stiff und ich vor Schreck zusammenfahren.

      »Könntest du mal damit aufhören, die ganze Nachbarschaft zusammen zu brüllen!«, brüllt Stiff sie an. Seine Nerven liegen offenbar blank. Das ist schon eine interessante Sache mit den Emotionen. Wie sie unser Handeln beeinflussen können. Ich scheine mehr und mehr kleine subtile Feinheiten in meinem Humor zu entdecken, wenn ich mich mit Stiff unterhalte. Reicos Emotionen scheinen hingegen rudimentärer gestrickt zu sein. Entweder weint sie wie ein Schlosshund oder bekommt sich vor Lachen fast nicht mehr ein.

      Dass Stiff nun seiner Wut und Verzweiflung freien Lauf lässt, ist nicht sonderlich förderlich. Wie sollen wir bei seinem Gebrüll unbemerkt an den Schrottsammlern vorbei und um die Mauer herumschleichen?

      »Sag mal Stiff? Gehören die da zu den Guten?«, frage ich und schaue an ihm vorbei auf die beachtliche Anzahl an Männern, die bis unter die Zähne bewaffnet sind und in schmutzigen und willkürlich zusammengeflickten Kleidungsfetzen auf uns zukommen..

      »Oh nein«, seufzt Stiff und lässt seine Schultern und den Kopf hängen.

      »Also doch eine Karriere als Gladiator?«

      Reico lacht dieses Mal nicht.

      »LAUFT!«, schreit sie stattdessen und lässt ihren Worten Taten folgen. Stiff und ich folgen ihr. Angetrieben durch das Gebrüll und Kampfgeschrei der Schrottsammler in unserem Nacken, sprinten wir die Straße hinunter.

      »Runter von der Straße«, schreit Stiff. Reico, die ein paar Meter Vorsprung hat, schlägt einen Haken wie ein Hase auf der Flucht und schmeißt sich in den erstbesten Hauseingang. Ich renne hinterher, blicke hoch und kann das Ende des Gebäudes nicht sehen. Der Dunst verschlingt es, wie alles, was diese kritische Höhe erreicht und taucht es in ein undurchdringliches Grau. Das Eingangsportal hat zum Glück keine Tür mehr und so gelangen wir, ohne Zeit zu verlieren, ins Innere. Der Empfangsbereich ist weitläufig. Schalter aus weißem Marmor legen Zeugnis über den einstigen Kundenservice ab. Weiter hinten geht es zu den Aufzügen und der Notfalltreppe. »Ein Bürogebäude«, kommt es mir in den Sinn. Und das Erdgeschoss war einst eine Bank mit Kundenschaltern.

      Reico bleibt urplötzlich stehen und wir schließen sofort zu ihr auf.

      »Nach oben!«, höre ich meine Stimme vorschlagen. Ich renne nun voraus und frage mich, woher mein Wissen stammt. Es kann nicht nur aus Büchern kommen. Die Bilder in meinem Kopf sind zu detailliert. Erinnerungen? Wir kommen im Treppenhaus an. In einem quadratischen, engen Schacht führen Stufen in zwei Richtungen.

      »Nach oben oder nach unten?«

      Stiff schlägt einen roten Kasten ein und holt eine Axt heraus. Eine Waffe? Doch dann schlägt er sie in den Spalt zwischen Tür und Boden. Ich verstehe. Wir gewinnen dadurch ein paar Sekunden.

      »Rauf oder runter?«, frage ich erneut. Es war ja schließlich seine Idee, die Straße zu verlassen.

      »Nach oben!«

      Das Adrenalin setzt enorme, verborgene Kraftreserven frei. Wir fliegen die Stufen nach oben zum nächsten Stockwerk hinauf. Wir rennen weiter, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, bis wir den dritten Stock erreichen. Dort erst bemerke ich, dass es um Stiffs Kraftreserven nicht so gut bestellt ist wie um meine und Reicos. Er liegt fast ein ganzes Stockwerk zurück. Die Geräusche weiter unten deuten darauf hin, dass die Schrottsammler die verbarrikadierte Tür aufgebrochen haben und uns dicht auf den Fersen sind.

      »Rein da!«, keucht Stiff außer Atem, als er zu uns aufgeschlossen hat.

      Ein einstiges Großraumbüro erwartet uns hinter der Tür. Dieser Ort scheint sich zwei Jahrhunderte lang in einem Dornröschenschlaf befunden zu haben. Alles bis auf den Staub erweckt den Anschein, als könnten jeden Moment die Angestellten zurückkommen, um sich hinter einen der unzähligen Glasschreibtische zu setzen. Mein Blick wandert ungehindert bis zur Hülle des Gebäudes, wo sich hinter riesigen, bodentiefen Fenstern der graue Nebel vorbei wälzt und die Scheiben dort, wo sie noch vorhanden sind, mit Wassertropfen versieht. Der Dunst meidet offensichtlich das Innere des Gebäudes. So erstaunlich gut erhalten die Büroetage auch immer sein mag, eines bietet sie auf jeden Fall nicht: eine Möglichkeit, um sich zu verstecken.

      Das bemerkt auch Stiff, als er sich umsieht.

      »Verdammt!«, flucht er. Der Lärm auf der Treppe kommt näher.

      »Dort hinten ist noch eine Tür!«, schluchzt Reico voller Angst, während sie ihren Arm ausstreckt, damit wir wissen, was sie meint.

      »Da geht es zu den Toiletten«, vermute ich.

      »Egal, es ist der einzige Ausweg«, röchelt Stiff und schon geht es weiter.

      Wir erreichen die Tür im gleichen Augenblick, als die Verfolger auf unserer Etage eintreffen. Wir schaffen es rechtzeitig bis hinter die Tür und bleiben dort kurz stehen. Stiffs Atem geht schwer und er hat Mühe, ihn zu beruhigen. Ist die Ursache das Adrenalin, die Anstrengung oder die Todesangst? Vielleicht auch ein Potpourri aus allen drei?

      »Sie sind auf dem Weg ins nächste Stockwerk«, flüstert er. Ich lege mein Ohr an die Tür und bekomme mit, wie sie sich entfernen. Gerade will ich erleichtert ausatmen, als ich höre, wie die Tür zum Treppenhaus aufgestoßen wird und gegen die Wand stößt. Stiff packt mich am Oberarm und zieht


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