Die Chroniken von 4 City - Band 4. Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 4 - Manuel Neff


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eine einzige Frage: Bin ich eine eiskalte Mörderin? Falls ja, was muss ich tun, was muss Reico tun, damit ich die Geschehnisse in der Abtei wiederholen kann? Ich kann Unmengen von Energie freisetzen, um uns zu beschützen. Doch dazu muss ich entfesselt werden. Dazu muss Reico das Bannlevel Ebene drei lösen, erinnere ich mich und mein Blick schwenkt zu meiner besten Freundin.

      Die Angst zeichnet ihr Gesicht. Die Augen sind riesig. Die Lippen zu einem schmalen Schlitz zusammengepresst. Jede einzelne Faser ihres mädchenhaften Körpers ist bis zum Zerreißen gespannt. Sie scheint nicht in der Lage zu sein, irgendetwas zu tun. Die Situation erscheint bizarr. Als würde die Zeit für einige Momente aufhören zu existieren.

      Stiff zieht seine Messer. Er macht sich bereit zum Kampf. Ich suche nach einem Ausweg, denn ich fühle mich emotional nicht in der Lage, Blut zu vergießen. Das erste Mal, seitdem ich Bekanntschaft mit meinen eigenen Gefühlen gemacht habe, frage ich mich, ob das Leben ohne Emotionen nicht einfacher wäre. Ich blicke mich um. Hinter Reico gibt es zwei weitere Türen. Strikt getrennt nach Geschlechtern sind sie nur die Zugänge zu Sackgassen. Es gibt kein Entkommen. Wir müssen uns ihnen stellen. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Ich spüre langsam, wie mein Blut vor Angst in den Adern gefriert. Die Tür wird aufgestoßen und der Schrottsammler reißt überrascht die Augen auf und blickt ungläubig auf die zwei Messer, die in seiner Brust stecken. Stiff hat keine Sekunde lang gezögert. Er setzt seinen Stiefel auf die Brust des sterbenden Mannes und verpasst ihm einen Stoß, sodass er auf den zweiten Schrottsammler prallt. Die mit Blut überzogenen Messer hält Stiff in den Händen, bereit für den zweiten Angriff.

      »Hier! Hierher!«, schreit der Schrottsammler geistesgegenwärtig, bevor auch er durch Stiffs Messer stirbt. Er hatte nicht die Spur einer Chance. Seine Verteidigung war stümperhaft und Stiffs Fähigkeiten in keiner Weise gewachsen. Ich hoffe, die anderen haben ihn nicht gehört, denn ich bezweifle, dass Stiff es mit allen aufnehmen kann. Ich blicke auf meine Arme.

      »Leuchtet! Beginnt zu leuchten!«, befehle ich meinen Tattoos. Nichts geschieht. Verzweifelt geht mein Blick zu Reico. »Tu was! Aktiviere mich!«, aber alles an ihr bringt zum Ausdruck, dass sie nichts tun wird. Ich bin stark, aber gegen die vermeintlich heranrollende Übermacht vermag ich nichts auszurichten. Stiff will nach vorne, doch ich halte ihn zurück.

      »Zu kämpfen hat keine Aussicht auf Erfolg.«

      »Ich hoffe, das bedeutet nicht unseren Tod«, murmelt er und steckt die Messer weg.

      »Tötet sie! Alle!«, kreischt der am Boden Liegende.

      »Oh! Er war doch noch nicht tot«, purzeln die Worte aus meinem Mund.

      Gesetz des Stärkeren

      Kurz darauf stürmen die Schrottsammler in das Großraumbüro. Schreibtische zersplittern unter der Wucht ihres Aufpralls. Die Schrottsammler zerschmettern alles, was sich ihnen in den Weg stellt und hinterlassen eine Schneise der Verwüstung. Es sind so viele, dass sie einen Großteil des Büros mit ihren Körpern, Gerüchen und Geschreie ausfüllen. Eine kuriosere Belegschaftsversammlung hat das Großraumbüro gewiss noch nie erlebt.

      »Halt!«, ruft Stiff. »Tötet uns nicht. Wir haben eine Waffe, die eurem Master Macht verleiht.« Von was spricht er? Einige der Männer zeigen Interesse, andere nicht. Ich beobachte Stiff, versuche herauszufinden, was für einen Plan er nun wieder verfolgt. Er sucht etwas. Seine Augen sind schnell, gleiten über die Männer hinweg. Was sucht er nur?

      »Was soll das für eine Waffe sein?«, fragt der Feind. Der Schrottsammler hat eine Stimme, die wie Schmirgelpapier klingt. Seine Haare sind schwarz, fettig und fallen ihm bis auf die Schultern. Eine breite Narbe zieht sich quer über sein Gesicht. Er ist groß, breit und kräftig und definitiv der Anführer dieser Männer. Nach ihm hat Stiff Ausschau gehalten. Ich registriere ein wenig Erleichterung, einen Funken Hoffnung in Stiffs Gesicht.

      »Eine sehr mächtige Waffe«, raunt Stiff, der geheimnisvoll klingen will. »Na toll, das klingt wahnsinnig überzeugend«, denke ich und schaffe es gerade so, meine Augen nicht zu verdrehen.

      »Verarschen kann ich mich selber. Tötet sie!«, befiehlt der Schrottsammler seinen Leuten und ihre Säbel klirren bedrohlich.

      »STOPP!« War das wirklich ich, die gerade eben gebrüllt hat? »Ich bin die Waffe!«, schiebe ich etwas leiser hinterher, weil die Schrottsammler tatsächlich innehalten. Anscheinend muss man nur laut genug sein und sie hören auf einen, doch dann erkenne ich meinen Irrtum und sehe die erhobene Hand ihres Anführers. »Ich bin eine Walküre«, sage ich und blicke zu Stiff. Er schüttelt in Zeitlupentempo seinen Kopf. Warum in Zeitlupe?

      »Befehl: Aufhebung Bannlevel Ebene zwei!«, dringen einzelne Worte an mein Ohr. Reico?! Sie ist aus ihrer Schockstarre erwacht. Genau rechtzeitig.

      Die Zeit ist ein seltsames Phänomen. Sie spielt uns in die Karten. Während alles um mich herum wie eingefroren erscheint, bewege ich mich auf den Anführer zu. Ich könnte sie alle töten. Mit Leichtigkeit, aber ich tue es nicht. Dieses Mal ist es anders als in der Abtei. Dieses Mal habe ich Mitgefühl. Oder vielleicht ist es auch nur eine Vorahnung, eine innere Stimme, die mir rät, einen anderen Weg einzuschlagen. Einen mit mehr Licht am Ende des Tunnels und weniger Blut auf den Wänden. Ich nehme den Säbel des Anführers an mich. Im nächsten Moment ist es vorbei.

      Eine Sekunde entspricht wieder einer Sekunde. Ich stehe da, bin froh mich für diesen Weg entschieden zu haben, denn ich hätte vielleicht doch nicht alle töten können. Ich halte den Säbel an die Kehle des hochgewachsenen Mannes.

      »Ich bin eine Walküre«, wiederhole ich. Er schluckt und sein Adamsapfel streift die Klinge des Säbels. Die Schrottsammler machen einen Schritt zurück. Sie fürchten sich.

      »Wenn ich dich töte, dann bin ich der Anführer, so ist es doch? Oder etwa nicht?« Ein anderer Schrottsammler antwortet an seiner Stelle.

      »Das ist das Gesetz des Stärkeren. Das erste Gesetz der Schrottsammler.«

      Ich lächle.

      »Erteile ihnen den Befehl, uns ziehen zu lassen. Ein Vorsprung von fünf Minuten genügt, dann dürft ihr wieder wie die Verrückten hinter uns herjagen. Wäre dir diese Abmachung dein Leben wert?«

      Er nickt und fast hätte er sich dadurch selbst den Hals aufgeschlitzt.

      »Gut, denn falls du dich nicht an die Vereinbarung hältst, dann komme ich wieder und schneide dir höchstpersönlich die Kehle bis ganz nach hinten zur Wirbelsäule auf. Das Leben kann so furchtbar kurz sein.«

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