Vulkanjäger. Катя Брандис
Das hieß wohl, dass ich gerade überflüssig war. Kein Problem, ich wollte mir sowieso Neapel anschauen.
Ich streifte durch die engen Gassen, in die jetzt am späten Nachmittag kaum noch ein Sonnenstrahl drang. Vorbei an einem übervollen, stechend riechenden Müllcontainer und an einer Bäckerei, aus der es nach Vanille und Blätterteig duftete. An einem kleinen Altar an einer Hauswand, in dem Plastikblumen und Kerzen vor einem Heiligenbild aufgebaut waren. An einem Fischgeschäft, von dessen Auslage mich Dutzende von starren Augen anglotzten. Auf den Balkons über mir flatterte zum Trocknen aufgespannte Wäsche, und wenn ich wollte, konnte ich in die Erdgeschosswohnungen hineinschauen, alle Fenster waren offen. Drinnen lief überall Fußball im Fernsehen. Ich konnte sehen, woher der Strom dafür kam, die oberen Stockwerke vieler Häuser waren mit kleinen Stücken Solarfolie vollgeklebt, ein schimmerndes Patchwork.
Interessiert spähte ich in jede Ecke. Das hier war nicht das gepflegte, idyllische Italien, das ich aus den Urlauben mit meiner Mutter am Gardasee und in der Toskana kannte. Dieses Italien war rau, dreckig, arm und deutlich interessanter.
Ich bog in eine größere Straße ab, in der sich Geschäfte und Cafés aneinanderreihten. Ein paar Minuten später kam ich an einem Souvenirladen vorbei, dessen Auslagen sich über den ganzen Bürgersteig erstreckten. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn ich einen anderen Laden ausgesucht hätte, um etwas für meine Mutter, Noah, Finn, Emily und meine anderen Freunde zu kaufen. Aber ich ging in diesen und schaute mich mit leichtem Grusel um – hatte irgendjemand, den ich kannte, Verwendung für Wandteller mit einem kitschigen Blick über die Bucht von Neapel mit dem darüber thronenden Vesuv? Oder für Kühlschrankmagnete in Pizza-Form? Es gab auch eine Schneekugel, in der eine Art brauner Napfkuchen mit Schlagsahne thronte ... ach so, das sollte wohl der ausbrechende Vesuv sein, das Weiße oben drauf war die Aschewolke ...
Mein Blick streifte durch den Laden, in dem ich der einzige Kunde war. Die junge Italienerin an der Kasse hatte mich noch nicht bemerkt, weil ich in der Nähe des Eingangs stand. Sie war gerade konzentriert dabei, ihr langes dunkles Haar zusammenzudrehen und hochzustecken. Doch dann rutschte ihr die Haarklammer aus der Hand, und als sie danach schnappte, entglitt ihr auch die Frisur. Leise fluchend versuchte sie sie zu retten und gleichzeitig ihre Haarklammer zu suchen.
Unwillkürlich musste ich lächeln, und es war, als habe sie ihre Fingerspitzen ausgestreckt und mein Herz berührt. Wer war sie? Wie hieß sie? Jetzt hatte sie mich bemerkt, und mit einem höflichen Lächeln sah sie mich an und wartete darauf, dass ich etwas kaufte. Ich schnappte mir blindlings eine I love Napoli-Tasse und ging damit auf sie zu. Sie hatte ein elfenhaft zartes Gesicht und ihre langen Haare glänzten wie die schwarzen Tasten eines Klaviers. Da sie mir nur bis zur Schulter ging, schaute sie kurz zu mir hoch, als sie „Tre Euro“ sagte. Ich wollte noch irgendeine Bemerkung machen, aber ihre schönen dunklen Augen hatten mein Italienisch von der Festplatte gelöscht. Der Blick des Mädchens wurde immer fragender, und ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Auch das noch. Jan die Tomate. Schnell das Geld rüberschieben und raus hier, ein „Grazie – ciao“ schaffte ich gerade noch.
Ich wanderte durch die Straßen, ohne irgendetwas zu sehen, immer geradeaus, verloren in einem Traum. Um ein Haar hätte mich ein Motorroller umgenietet, aber der Fahrer konnte gerade noch ausweichen.
Ganz von selbst steuerten meine Füße mich irgendwann zurück zum Souvenirladen. Das Mädchen stapelte gerade Aschenbecher mit bunten Bildchen und Goldrand aufeinander. Ich tat so, als würde ich Weinflaschenhalter mustern, bis ich endlich den Mut hatte, sie in Italienisch anzusprechen. „Scusi, Signorina, haben Sie eigentlich auch Bücher?“ Es war keine sehr schlaue Frage, doch ich hielt mich an Wörter, die ich kannte.
Dafür bekam ich ein Lächeln. „Leider nein, aber wie wäre es damit? Molto bello!“
Sie zeigte mir eine Tischdecke mit einer dekorativen Karte der Amalfi-Küste darauf. Unglaublich hässlich. Ich kaufte sie trotzdem. Mit etwas Glück fand meine Mutter das Ding witzig. Wie konnte ich herauskriegen, wie die Elfe hieß? Sie war garantiert nicht älter als ich, jobbte sie während der Ferien hier? Hatte sie einen Freund?
Als ich ins Hotelzimmer zurückkehrte, war mein Vater noch nicht wieder da. Ich warf mich auf mein Bett, starrte an die Decke und rief mir noch einmal jeden Moment mit ihr ins Gedächtnis. Nicht mal zu Anna-Lia hatte ich mich so hingezogen gefühlt. Sie hatte in der Klasse ein paar Monate lang neben mir gesessen, doch vermutlich hatte sie nichts davon gemerkt, dass ich sie toll fand. Ich hatte mir auch alle Mühe gegeben, es mir nicht anmerken zu lassen, während wir herumwitzelten oder zusammen Bio lernten.
Aber was jetzt, was war mit diesem italienischen Mädchen? In solchen Dingen hatte ich einfach kein Glück, wahrscheinlich würden wir nicht mehr als zehn Sätze wechseln in der Zeit, in der ich hier war. Schon bald würden André und ich weiterreisen zu all den Vulkanen, die mein Vater filmen wollte, und irgendwann würde ich sie vergessen ... schließlich wusste ich nicht einmal, wie sie hieß ...
Ich schrieb eine Nachricht an Noah, ihm konnte ich es sagen, was heute geschehen war. Ziemlich schnell war seine Antwort da.
Hey, das freut mich total! Lass einfach deinen Charme spielen! Pia sagt, du hättest es echt verdient, dass dich endlich mal eine entdeckt ...
Noah
Moment mal, Noah redete mit Pia über mein Liebesleben? Der bekam vorerst keine weiteren Enthüllungen mehr von mir!
Den Abend verbrachten wir mit Fred in einem winzigen Restaurant auf der Via dei Tribunali, vor uns drei nach geschmolzenem Käse duftende Pizza Vesuvio, zu Ehren des Berges, der sich neben der Stadt erhob. „Wenn du magst, können wir morgen kurz auf den Vesuv klettern, während Fred noch ein paar Ersatzakkus für die Arri besorgt“, kündigte mein Vater an. „Schließlich willst du möglichst viele Vulkane sehen, oder?“
„Äh, ja, logisch.“
„Aber wenn du was anderes machen willst, gerne.“
„Okay.“ Abwesend biss ich in ein dampfendes Stück Pizza.
Mein Vater ließ mich nicht aus den Augen. „Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Oder redest du immer so wenig?“
„Los? Mit mir?“, wiederholte ich und bemühte mich um ein Lächeln. „Ich glaube, es ist das Klima. Ziemlich heiß hier.“
„Das wird in Hawaii nicht besser“, meinte Fred. „Kannst dich gleich dran gewöhnen.“
Ach echt? Der hatte ja tolle Tipps auf Lager.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete mich André, und einen Moment lang befürchtete ich, dass er einfach raten würde, was mit mir los war ... und damit richtigliegen würde. Aber dann zuckte er die Schultern und schob seinen halb leeren Teller von sich. „Das war meine erste und letzte Pizza hier, ich vertrage so fettiges Zeug einfach nicht.“
„Gut, dass du sonst härter im Nehmen bist“, bemerkte Fred und aß den Rest von Andrés Pizza gleich mit.
Alles auf eine Karte
Ich bekam dieses Mädchen einfach nicht aus dem Kopf. Warum eigentlich? Nur weil sie hübsch war? Womöglich stellte sie sich als oberflächliche Zicke heraus, die sich vor jeder Spinne ekelte und hauptsächlich an Shopping interessiert war. Aber irgendwie glaubte ich das nicht. Sie wirkte so herzlich, so echt.
Wenn ich sie in ihrem Laden sah, ging etwas, was sich wie ein elektrischer Schlag anfühlte, durch meinen ganzen Körper. Einmal sah ich sie mit einem Mann diskutieren und bewunderte die feurige Art, wie sie mit den Händen sprach. Ein anderes Mal beobachtete ich sie dabei, wie sie heimlich unter der Theke auf ihrem Communicator herumtippte, und musste grinsen. Niemand war im Laden, ich musste einfach nur auf sie zugehen und sie fragen, wie sie hieß. Alles auf eine Karte. Los jetzt!
Wieder nichts, weder meine Füße noch meine Lippen bewegten sich. Es nahm mir jeden Mut, dass sie mich immer noch mit diesem höflichen Verkäuferinnen-Lächeln bedachte, wenn sie mich sah. Kein Erkennen in