Das große Geheimnis. Thomas Pfanner
Das große Geheimnis
Thomas Pfanner
Prolog
Der Regen verdunkelte die Nacht zusätzlich, so dass die Scheinwerfer des Kleinbusses die Straße kaum zu erleuchten vermochten. Auf der Rückbank betrachtete Maria versonnen die Finsternis. Dabei überdachte sie noch einmal die Ereignisse des Tages, die angenehmer nicht hätten sein können. Ihre Eltern unterhielten sich leise, als unverständlicher Singsang plätscherten die Worte an ihr vorbei. Behaglich kuschelte sie sich in den dicken Ledersitz und genoss das Gefühl, mit ihren zwölf Jahren erstmals ohne Kindersitz fahren zu dürfen. Darin fuhr es sich viel besser, unbeeindruckt von der kurvigen Straße saß sie geborgen und sicher.
Plötzlich schreckte sie auf. Der Wagen wurde langsamer, das sonore Brummen des Motors ebbte ab. Mitten auf der Landstraße sah sie kaum sichtbar eine Gestalt auf der Straße stehen, die mit einem gelben Licht winkte. Sie fuhren langsam heran, hielten, ihre Mutter ließ das Seitenfenster heruntergleiten, der Mann trat heran. Ihre Mutter fragte, was denn los sei. Es begannen endlose Minuten, von denen Maria später immer wieder Alpträumen erleben würde. Wie in Zeitlupe beobachtete sie das Weitere, unfähig zu reagieren oder auch nur zu nachzudenken. Sie sah die Bewegung des Mannes, bevor ihre Mutter sie sah, doch ihr Vater reagierte noch schneller. Vermutlich deutete er das Grinsen richtig, als der Mann die Lampe senkte und etwas anderes hob. Der Motor heulte auf, der Kleinbus setzte sich in Bewegung, etwas blitzte an der Hüfte des Mannes, blitzte noch mehrmals, während der Bus an ihm vorbei fuhr. Im Blech des Wagens gab es einige reißende Geräusche, ihr Vater schrie wild, der Bus dröhnte und der Motor winselte in höchster Drehzahl. Stark beschleunigend brachten sie einige Kurven zwischen sich und dem fremden Mann. Maria schaute weiter nach hinten, und als ob sie es geahnt hätte, tauchten gleich Scheinwerfer auf, hektisch nach ihnen greifend. Unwillkürlich drehte sie den Kopf nach vorn, etwas stimmte nicht. In den immer schneller gefahrenen Kurven flog der Kopf ihrer Mutter kraftlos hin und her, während ihr Vater fluchend und schreiend gleichzeitig den Wagen zu beherrschen versuchte und mit der rechten Hand seine Frau schüttelte.
Maria wurde schlecht von der rasanten und unsicheren Fahrweise, schlecht von dem, was mit ihrer Mutter nicht stimmte, alles zusammen machte sie völlig hilflos. Gefangen wie in einer Achterbahn, die immer schneller jenseits aller Erträglichkeit von Looping zu Looping raste, verfolgte sie, wie die Lichter von hinten heran schossen. Trotz der nie erlebten Geschwindigkeit, mit der ihr Vater den Bus durch die Kurven hetzte, überholten die Lichter, und dann drehte sich alles. Der Bus bremste, schleuderte, schien leichter zu werden, etwas krachte, sie wurde herumgewirbelt. Schließlich kam alles leicht auf die Seite geneigt zum Stillstand. Sie fand sich halb auf dem Fenster liegend wieder, sah von dort, wie ihr Vater verzweifelt gegen den Ballon des Airbags kämpfte, der ihn in zwischen Lenkrad und Sitz festhielt und viel zu langsam zusammensackte. Endlich gelang es ihm, sich zu befreien, sah den Platz vor dem Sitz ihrer Mutter an. Ihre Mutter, sie war nicht mehr zu sehen, sie saß nicht mehr auf ihrem Platz. Während Maria noch dorthin starrte, wo es nichts mehr zu sehen gab, spürte sie plötzlich die Hände ihres Vaters. Er löste den Gurt und zerrte sie unsanft mit sich zur Tür heraus. Aus den Augenwinkeln sah sie auf dem Beifahrersitz rote Haare liegen und verstand es nicht. Ihre Mutter hatte blonde Haare. Es blieb keine Zeit, schon standen sie vor dem Wagen. Maria sah zu ihrem Vater hoch. Warum sah er sie nicht an, warum sprach er nicht mit ihr? Sein Gesicht verzerrte sich, ruppig schwang er sie über die Schulter und begann zu laufen. Für eine endlose Zeit hörte Maria sein Schnaufen, sah Gras vorbeifliegen und wurde dabei heftig durchgerüttelt. Die Übelkeit wuchs, ihr Kopf schien zu platzen, durch den endlosen Regen wurde sie nass bis auf die Haut. Der Boden war nun lehmig, es quietschte etwas, ihr Vater hob sie von der Schulter und sah sie an. »Versteck dich! Los!«
Durch eine Tür warf er sie ins Dunkle. Während sie instinktiv seine Anweisung befolgte, ging ihr die Art, in der Vater sie eben angesehen hatte, nicht aus dem Sinn. Maria verstand es nicht, konnte sich keinen Reim darauf machen, weshalb ihr sein Blick gleichzeitig liebevoll und doch verzweifelt erschienen war. Draußen hörte sie Schreie, es knallte mehrmals. Hastig tastete Maria sich weiter ins Dunkle, sie fühlte Stroh, roch Pferde, hörte aber keinerlei Geräusche in der Nähe. Kaum hatte sie eine Stelle gefunden, die nach drei Seiten Deckung bot, flog die Tür auf und ein greller Lichtstrahl tastete durch den Raum. Aus den Details, die der Lichtfinger ausleuchtete, setzte sich das Bild einer kleinen Scheune zusammen, in der ungeordnete Strohballen herumlagen. Ohne Angst oder eine andere Reaktion verfolgte sie wie eine unbeteiligte Zuschauerin, wie das Licht einen Bruder bekam, wie beide Lichter zusammen jeden Winkel ausleuchteten und dabei langsam, aber unaufhaltsam, näher kamen. Dann blendete sie das grelle Licht, das zweite Licht kam hinzu und ein Mann sagte triumphierend: »Da ist das kleine Miststück. Die noch, dann sind wir fertig.«
Der andere Mann antwortete grob: »Quatsch hier nicht rum, knall sie ab und dann weg hier. Das dauert schon viel zu lange.«
»Allerdings.«
Eine ruhige, dunkle Stimme sprach, woraufhin die Lichter von ihr wegzuckten. Fast gleichzeitig peitschten Schüsse, so zahlreich, dass sie nicht zählen konnte. Die Lichter rasten im Bogen über die Wände und strahlten schließlich bewegungslos am Boden entlang. Sie blinzelte, sah von schmutzigen Stiefeln hoch zu einer Gestalt, die sich schwach vom Lichterschein abhob und sich zu ihr herabbeugte. Die dunkle Stimme drängte: »Maria! Für Jesus, stehe auf! Ich bringe dich weg.«
Willenlos ließ sie sich wegziehen, erhaschte im Vorbeigehen einen Blick in ein blutverschmiertes Gesicht, aus dem ihr tote Augen entgegenstarrten. Die Dunkelheit empfing sie draußen, aus der eine zweite Stimme mit dem Mann sprach, der sie mit sich zog: »Exitus. Alle. Sie ist die Letzte.«
»Adrian, das ist schlecht. Man wird uns zur Verantwortung ziehen.«
»Das wird man. Aber denk dran, unser Auftrag ist noch immer unerledigt. Wir müssen das Kind in Sicherheit bringen. Sofort. Der Feind führt sicher Verstärkung heran.«
Sie verstand nicht, worum es ging. Die Niedergeschlagenheit der beiden Männer allerdings spürte sie. Dennoch beeilten sie sich, zogen Maria weiter, bis sie wieder an der Straße ankamen. Sie erkannte den Bus ihrer Eltern, gewahrte schemenhaft einen Wagen, der dicht neben dem Fahrzeug stand. Man zerrte sie jedoch ein Stück weiter die Straße hinauf. Dort parkten zwei Motorräder. Der eine Mann zog sie dorthin, hantierte an einer Maschine, drehte sich um und setzte ihr stumm einen Helm auf. Als er sorgfältig und umständlich den Verschluss justierte und festzurrte, konnte sie sein Gesicht genauer betrachten. Er sah ihrem Vater ähnlich, die gleichen senkrecht die Wangen durchfurchenden Falten, der ernste Ausdruck des Mundes, die steile Nase. Dann sah er ihr in die Augen. »Maria, du fährst mit mir auf diesem Motorrad. Halte dich gut fest, dann bringe ich dich in Sicherheit.«
Er machte Anstalten, sie um die Hüfte zu fassen, da endlich vermochte sie zu fragen: »Wer … wer bist du?«
Er hielt inne, sog die Luft scharf ein, fast hatte es den Anschein, als würde er unsicher werden. Er fing sich sofort und antwortete barsch: »Ich bin der verantwortliche Wächter«, um sie dann doch ohne weitere Umstände zu packen und auf das Motorrad zu setzen. Er schwang sich auf den Sitz, mit aggressivem Kreischen startete der Motor und er fuhr los, ohne ein Wort mit dem anderen Mann zu wechseln. Durch den Ruck des Anfahrens drehte sie den Kopf und sah für den Augenblick eine Szene, die sich wie so vieles andere, was in dieser