Das große Geheimnis. Thomas Pfanner
kniff die Augen zusammen, doch außer herumalbernden Jugendlichen vermochte sie nichts zu erkennen.
»Ich kann Ihre Beobachtungen nicht teilen. Da ist nichts.«
»Schauen Sie doch. Sie reagiert auf seine Bewegungen. Geht er nach rechts, bewegt sie sich nach links. Sie macht sich eine ziemliche Mühe, immer das Feuer zwischen sich zu haben.«
Eusterholz ließ die Szene auf sich wirken und nach einer ganzen Weile erkannte sie das Muster.
»Also, Herr Burg, Ihre Beobachtungsgabe ist wirklich außerordentlich gut. Das erkennt man überhaupt nicht, wenn man nicht weiß, worauf man achten muss. Also ist Ihre scheinbar unaufgeregte Art, die Jugendlichen zu betrachten, doch nicht so ganz sinnentleert. Haben Sie noch mehr Geheimnisse entdeckt?«
»Sicher, aber nicht so ein dramatisches wie bei den beiden.«
»Dramatisch? Er belauert sie, na und? Da ist doch nichts Dramatisches dran?«
Burg blies die Backen auf und sah seine Chefin durchdringend an, immer noch den Kopf in die linke Hand gelehnt. »Frau Eusterholz, das ist vielleicht in diesem Augenblick noch nicht dramatisch. Meine Eigenart ist es, beobachtete Entwicklungen zu Ende zu denken, bevor die Ereignisse tatsächlich aus dem Ruder laufen. Dieser Junge ist nicht einfach nur interessiert. Er steht in Flammen. Aus den Augen, aus den Bewegungen, aus der Art, wie er mit seinen Kumpels redet, spricht die nackte Gier. Fatalerweise lehnt ihn Maria aus genau diesem Grund ab. Sie geht jedem aus dem Weg, der ihr seinen Willen aufzwingen will.«
»Sie haben aber schon ganz schön weit in die dunklen Ecken unserer Schüler geleuchtet«, bemerkte Eusterholz anerkennend, »gibt es etwas, was Sie nicht wissen?«
»Weiß nicht«, gab Burg zurück und sie lachten. Die Internatsleiterin musste sich wieder um die Würstchen kümmern, während Burg sich weiterhin der Beobachtung der Schüler widmete. Dabei sah er nicht wirklich interessiert aus. Eher besorgt.
4
Missmutig betrachtete sie den gewaltigen Stapel Papier auf ihrem Schreibtisch, schweifte weiter zu der Couch und der kleinen Küchenzeile in der Ecke. Überall das gleiche Bild: Berge von Papier. So schwer hatte sie es sich nicht vorgestellt.
Sie suchte ein Mädchen, das angeblich vor drei Jahren verschwunden war. Spurlos zumal, und mit einem Namen gesegnet, der alles andere als selten war: Bauer. Dass ihr Auftraggeber sich mit weiteren Details sehr zurückhielt, erleichterte die Aufgabe nicht. Nachdem sie alle erreichbaren Daten und Fakten um sich versammelt hatte, erschien ihr die Annahme plausibel, dass es sich womöglich gar nicht um einen richtigen Auftrag handelte. Im Geiste ging sie alle Feinde durch und fragte sich bei jedem, ob er wohl das Geld und die Motivation hätte, ihr aus reiner Lust an der Rache eine unmöglich zu lösende Aufgabe zu stellen. Der Berg von Papier bestand aus Hinweisen, jedes einzelne Blatt für sich ein Hinweis, dem sie eigentlich nachgehen sollte. Das war gleichzeitig gut und schlecht. Gut, dass sie überhaupt Hinweise zutage fördern konnte. Schlecht, weil es keinen Hinweis gab, der aus der Masse herausragte. Ein öder Brei lag da vor ihr ausgebreitet und sie hatte keine Vorstellung, welche Spur sie weiterbringen würde.
Bei der Recherche war ihr bewusst geworden, wie viele Waisenkinder es gab in diesem Land, wie viele von ihnen nach einiger Zeit neue Eltern bekamen, die sich dann scheiden ließen, neue Partner erwählten, neue Namen annahmen, wegzogen, sich scheiden ließen und so weiter. Dagegen kam ihr ein Dschungel so übersichtlich vor wie ein beleuchteter Parkplatz. Wenn wenigstens der Name nicht so gewöhnlich gewesen wäre. Im Telefonbuch existierten nicht weniger als etwa siebenunddreißigtausend Einträge mit dem Namen Bauer. Dazu kamen sicher noch etliche Bauers mit Geheimnummer. Bei diesem Gedanken kam ihr eine Idee, wie sie den Staub ihrer Papiersammlung für eine Weile hinter sich lassen konnte, ohne den Auftrag zu vernachlässigen. Sie machte sich flüchtig frisch und danach sogleich auf den Weg.
5
Er betrachtete die Dinge aus der Entfernung. Kurz zuvor war er an der Ecke der Turnhalle angelangt und wartete nun ab, wie sich die beiden verhalten würden. Er wollte sicher gehen, nichts falsch zu verstehen. Das Mädchen und der Junge standen sehr dicht beieinander, der Junge legte gerade einen Arm besitzergreifend um ihre Schulter und sprach ebenso drängend wie hochnäsig auf sie ein: »Komm schon, Zuckerschnecke, du wirst sehen, es ist toll. Ich kann das gut, tut gar nicht weh.«
Das Mädchen versuchte vergeblich, den Arm abzuschütteln und erwiderte mit erkennbarer Abneigung: »Ich verzichte, Sägebrecht. Lass mich los, wir haben nichts miteinander. Ich will nicht mit dir schlafen, weder hier noch im Auto. Das ist widerlich.« Der Junge zeigte sich unbeeindruckt, zog das Mädchen noch näher heran und säuselte mit unverhohlener Gier: »Zuckerschnecke, sei nicht so spießig. In deinem Alter muss man Erfahrungen sammeln, das bringt dich weiter. Später einmal wirst du mir dankbar sein.«
»Ich will aber nicht, kapier das endlich.«
Völlig ungerührt redete der Junge weiter, während er nun auch mit der zweiten Hand zugriff. »Keiner wird es dir ansehen, und du wirst auch nicht krank davon. Da ist doch nichts dabei. Na los, gib dir einen Ruck.«
Mit einer heftigen Bewegung machte sich das Mädchen los, trat einen Schritt beiseite und sagte bestimmt: »Wenn da nichts dabei ist, dann macht es auch nichts, es zu lassen. Damit gibst du selbst zu, dass es unwichtig ist. Und dass ich davon nicht krank werde, ist noch nicht ausgemacht. Wenn du dich so exzessiv durch die Schule schläfst, wie man sich erzählt, dann hast du schon lange Aids. Also lass mich in Ruhe.«
Der Junge setzte nach, hielt sie an beiden Schultern fest, drückte sie gegen die Wand der Turnhalle und hielt den Blick auf ihre Oberweite gerichtet: »Nix da. Du willst es und du brauchst es. Ich bin der Einzige, der es dir richtig besorgen kann, und bei Gott, wir machen es jetzt. Du ziehst diesen Fummel aus und drehst dich um, verstanden?«
Sie schrie ihn an: »Verschwinde! Ich schlafe mit niemandem, mit niemandem! Ich bin Jungfrau und werde es bleiben.«
Sie atmete tief ein, um noch lauter schreien zu können. Der Junge fasste sie mit einer Hand an den Hals, um dies zu verhindern, und mit der anderen Hand versuchte er, unter ihr Sweatshirt zu gelangen.
»Das ist ja ganz toll, eine leibhaftige Jungfrau. So was hatte ich ja seit Wochen nicht mehr. Das macht mir besonderen Spaß. In diesem Fall darfst du ihn auch lutschen.«
»Ich fürchte, da wird nichts draus.«
Bereits Sekunden zuvor hatte das Mädchen die Augen aufgerissen und die Gegenwehr eingestellt, was der Junge als Sieg interpretierte. Nun musste er urplötzlich erkennen, dass es sich anders verhielt. Noch während die dunkle Stimme die Worte sehr sanft sprach, packte eine Hand nach seinen Haaren und zog ihn brutal von dem Mädchen fort. Dann fand sich Sägebracht herumgewirbelt und an die Wand gestellt in der gleichen Position wieder, in der er eben noch das Mädchen gefangen gehalten hatte.
»Herr Burg, ich habe das nicht gewollt, ich …«
»Ich weiß, Maria, hab keine Angst. Geh jetzt.«
Der Junge erholte sich überraschend schnell von dem Schock. »Klar hat sie es gewollt, die kleine Schlampe. Sie wollte erst mich und dann alle meine Kumpels.«
Burg sah zu Maria und herrschte sie an: »Los, verschwinde. Sofort.«
Während sie weglief, stieß Burg den Jungen an paar Mal nicht übermäßig brutal an die Wand. »Du bekommst doch von deiner Mutter reichlich Taschengeld, nicht wahr?«
»Das geht Sie gar nichts an, Sie Mistkerl!«, giftete der Junge zurück. Burg ignorierte die Beschimpfung und raunte ihm zu: »Dann kaufe dir eine Gummipuppe und übe erst mal. Sonst knickt er womöglich ab, wenn du weiterhin so stürmisch bist.«
Der Junge schnappte nach Luft, glotzte erst verdutzt, bevor die blutrote Wut über sein Gesicht schwappte: »Das haben Sie nicht umsonst gesagt, Sie! Passen Sie bloß auf, dass kein Unglück passiert, wenn Sie das nächste Mal durch den dunklen Park laufen. Sie Mistkerl, lassen Sie mich los. Au, loslassen!«
Burg verstärkte den Druck seiner Hände und hob den Jungen spielerisch in die Höhe, drückte ihn, die Füße zehn Zentimeter