Das große Geheimnis. Thomas Pfanner
zu dem havarierten Bus schauend, etwas Langes in den Händen haltend. Dazu ein Licht, sich flackernd durch den Regen nähernd. Der Anblick ließ schlagartig eine furchtbare Angst in ihr aufsteigen und sie klammerte sich mit aller Kraft in die Jacke des Fahrers.
I. Ein neuer Versuch
»Komm rein, Maria, und setz dich. Schön, dass du Zeit hast.«
Zögernd folgte sie der Aufforderung und nahm an dem kleinen runden Tisch Platz. Die Internatsleiterin gesellte sich zu ihr, Kaffeetasse in der einen und Zigarette in der anderen Hand und lächelte sie freundlich und offen an.
»Also gut, fangen wir an. Ich habe dich zu mir gebeten, damit wir mal ein bisschen reden. Du weißt, ich bin erst seit drei Monaten hier die Leitung. Ich habe mir alle Akten angesehen, mit allen Schülern gesprochen und glaube nun, alle Probleme zu kennen. Du bist die Letzte, mit der ich hier im Vertrauen spreche, auch, weil du dreimal abgesagt hast.«
Ohne Scheu erwiderte sie: »Ich hatte viel zu tun, Frau Eusterholz. Sie wissen sicher, dass ich sehr viel Wert darauf lege, eine gute Schülerin zu sein.«
Die Internatsleiterin verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Ja, das ist aber leider nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte besteht darin, dass du ebenso viel Wert darauf legst, möglichst nichts zu essen. Wenn ich dich so ansehe, dann kriege ich das Zucken.«
In der Tat konnte der Unterschied nicht größer sein. Auf der einen Seite die große, gewichtige und lebenslustige Internatsleiterin; auf der anderen Seite ein kleines dünnes Mädchen, das die unendliche Trauer in ihren Augen nie ablegte. Den Blick auf ihre gefalteten Hände gerichtet erwiderte sie: »Ich bemühe mich ja. Aber ich vergesse es immer, zu essen. Ich konzentriere mich aufs Lernen. Das ist doch nicht schlimm.«
Frau Eusterholz beugte sich vor, um den Blick ihrer Schülerin einzufangen, und redete intensiv auf sie ein: »Du willst mir doch nicht etwa einen Bären aufbinden, der größer ist als ich selbst, oder? Ich verstehe zufällig was von der Sache, also weiß ich ganz genau, dass Ablenkung nicht der Grund für Gewichtsverlust sein kann. Abgesehen davon ist mir trotz allem ziemlich unverständlich, wie du es überhaupt schaffst, stundenlang zu lernen, ohne umzukippen. Vielleicht tust du es ja, umkippen, meine ich, nur bemerkt es niemand. Dieses Internat ist nicht unbedingt das Beste. Aber das kriege ich schon hin. Du hingegen machst mir doch Sorgen. Langsam ist dein Gewichtsverlust nicht mehr lustig. Du bewegst dich an der Grenze dessen, was man Magersucht nennt. Du bist klug genug, um zu wissen, dass es ab einem gewissen Punkt kein Zurück mehr gibt. Dieser Punkt ist beinahe schon erreicht.«
Das Mädchen senkte wieder den Blick auf seine Hände und meinte fast unhörbar: »Ich kann nichts dafür. Mir schmeckt nichts, ich verspüre keinen Hunger und ich denke auch nicht an Essen. Es ist nichts weiter.«
Frau Eusterholz taxierte die Schülerin kritisch. Alles an Maria war auf wenig Wartungsaufwand ausgelegt. Ihr dünner Körper wurde von schlabberiger Kleidung perfekt verhüllt. Das hagere, klassisch anmutende Gesicht mit der zu großen Nase zeigte kein Gramm Schminke oder Creme, für ein fünfzehnjähriges Mädchen extrem ungewöhnlich. Das leicht rötliche Haar war kurz geschnitten, dazu fehlte jeglicher Schmuck, außer einer recht groben Silberkette, deren Ende sie immer unter der Kleidung verbarg. Was sie bei alledem am meisten verwunderte, war die offensichtliche Gesundheit des Mädchens. Teenager in ihrem Alter, ganz besonders wenn sie unter Essstörungen litten, zeigten gemeinhin eine ziemliche Palette an augenfälligen Erscheinungen. Mindestens müssten Pickel und eine ungesunde Hautfarbe festzustellen sein. Maria aber sah aus wie das blühende Leben, so, als ob sie das morgendliche Stück Brot mit jeder Menge Vitaminen und Mineralstoffen versorgte. Sie schüttelte die Gedanken ab und ergriff wieder das Wort: »Maria, natürlich ist da was. Das sieht man dir an, das sickert aus deinen Poren. Du hast den Blick, die Gestik und die Bewegungen eines Menschen, der unter einem Schicksalsschlag fast zusammenbricht. Ich denke, dass deine Probleme daher kommen.«
Nun blickte das Mädchen auf und überraschenderweise legte sie Kraft und Ausdruck in ihre Stimme: »Ich bin Waise. Meine Mutter ist tot, mein Vater ist tot, alle Verwandten sind tot. Ich bin allein auf dieser Welt. Wenn das einen Menschen traurig macht, dann ist das doch normal.«
Frau Eusterholz runzelte die Stirn: »Das kann sein, ganz sicher. Leider passiert es erschreckend vielen Kindern, dass sie ihre Eltern verlieren. Die meisten lassen sich jedoch nicht unterkriegen und bewältigen ihr Schicksal. Und praktisch alle haben keine Einwände gegen eine Adoption.«
»Dann bin ich eben wirklich anders. Ich habe meine Eltern geliebt. Keine andere Familie kann mir diese Liebe geben. Der Schmerz würde stärker werden, befände ich mich in einer Familie, die mir nicht das geben könnte, was ich einst gewöhnt war. Das müssen Sie doch verstehen.«
Erstaunt betrachtete die Internatsleiterin das Mädchen. Unvermutet hatte es gut durchblutete Gesichtszüge und in den Augen loderte ein Feuer, das ihr Respekt einflößte. So kannte sie Maria noch nicht.
»Verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht wirklich. Ganz gleich, wie schwer der Schicksalsschlag auch gewesen ist, irgendwann erholt man sich davon. Der Grund dafür ist, dass unser Gehirn, manchmal auch unser Bewusstsein, einen Weg sucht, die Erinnerung zu überwinden und somit wieder in das Leben zurückzukehren. Du bist hochintelligent, dir sollte das auch gelingen. Warum also wehrst du dich dagegen?«
»Weil ich es als Verrat betrachten würde. Verrat an meinen Eltern. Verrat an meinen Gefühlen.«
»So schlimm?“ Frau Eusterholz überlegte. „Moment, dabei fällt mir ein, in den Akten steht absolut nichts über deine Eltern, außer, dass sie gestorben sind. Gibt es da vielleicht etwas, was ich wissen sollte? Etwas, mit dem ich dir helfen könnte?«
Maria blitzte sie an. »Nein. Ich weiß selbst nichts. Kann ich jetzt gehen?«
»Im Prinzip schon. Ich wollte dir nur noch sagen, dass ab morgen Herr Burg der Ansprechpartner für dich und die anderen Mädchen auf dem zweiten Stock sein wird.«
Maria nickte, sprang vom Stuhl und stürmte nach draußen. Zurück blieb eine Internatsleiterin, die sich ebenso ernsthaft wie erfolglos fragte, was genau gerade schief gelaufen war.
2
Skeptisch blickte Katja Preuß von den wenigen beschriebenen Blättern hoch zu dem Mann, der vor ihr auf dem klapprigen Stuhl saß. Seine Visitenkarte gab ihn als Psychiater aus, doch nach ihrer Einschätzung handelte es sich eher um einen kalten und arroganten Playboy. Ein schmaler, feingliedriger Mensch mit sonnengebräuntem, jugendlich wirkendem Gesicht und manikürten Händen, die in diesem Moment mit der kleinen Designerbrille spielten. Seine wasserblauen Augen betrachteten sie ausdruckslos, während er gleichzeitig seinem Gesicht durch ein geringfügiges Verziehen der Mundwinkel einen nachdenklichen Ausdruck verlieh. Genau die Sorte Mann, um die sie für gewöhnlich einen gewaltigen Bogen machte. Wie der schon ihr kleines Büro gemustert hatte, halb spöttisch und mit genau dem Quäntchen Verachtung, das sie rasend machte. Unter normalen Umständen jedenfalls. Zurzeit konnte sie sich Allüren jedweder Art nicht leisten. Das Geschäft lief nicht allzu gut, ab und an gab es eine Ehefrau, die ihren Mann des Fremdgehens verdächtigte, ab und an war da ein Kerl, der seine weggelaufene Frau finden wollte. Sie drehte sich im Kreis, die geringen Einnahmen spiegelten sich in der Büroausstattung wieder. Allein darum machte sie ihr mutmaßlicher Kunde misstrauisch. Warum ausgerechnet hatte er sie aufgesucht? In ihrer direkten Art fragte sie ihn das auch. Er verzog die Mundwinkel noch weiter und antwortete mit seiner leisen, jedes Wort einzeln betonenden Art: »Wegen der Diskretion. Ich bin ein anerkanntes und wichtiges Mitglied der Gesellschaft. Wenn ich in dieser delikaten Frage eine bekannte Detektei beauftrage, dann würde unter Umständen die Aussicht auf den Skandal unerwartete Komplikationen provozieren. Ich denke, Sie sind professionell genug, diesen Fall kompetent zu lösen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«
Dieser Arsch, dachte sie, er denkt, dass ich zwar als Ex-Polizistin die Sache hinkriege, aber andererseits so mittellos bin, dass ich nichts erzähle. Wenn das so ist, streiche ich jetzt gleich das Schweigegeld ein. Sie sah den Mann kalt an: »Also, ich fasse noch einmal zusammen: Sie wollen, dass ich ein Kind finde. Sie wissen nicht, wo es ist; Sie wissen auch nicht, wie es heißt; Sie wissen nur, wie der Name der Großmutter lautete. Sie wollen das