Drei sind keiner zu viel. Jörn Holtz
ich möchte auch gar nicht weiter stören. Ich sorge nur mal kurz dafür, dass sie sich ungestört verabschieden können“, schaltete sie erst alle Geräte aus, bevor sie Petras Leichnam von der künstlichen Beatmung befreite. Dann breitete sie ein Laken über ihr aus, so dass Petra mit einem Mal so aussah, als ob sie schlief. Mit den Worten: „Der Arzt schaut gleich noch einmal vorbei“, verließ sie diskret den Raum wieder.
Wie versteinert und mit einem Mal innerlich leer, betrachtete Ole eine Zeitlang seine tote Schwester. Dann wanderte sein Blick abwechselnd zwischen ihr und dem mittlerweile dunklen Nachthimmel im Fenster hin und her. Und der, der bei der Frage: Warum Gott seine Mutter so früh zu sich genommen hatte, seinen Glauben an einen gütigen Gott und alles andere verloren hatte, sah nun zum Himmel hinauf, so als ob er der Seele seiner Schwester hinterher schauen konnte. Dabei stellte er sich vor, dass seine Mutter milde lächelnd auf ihn hinabsah, während sie die Seele seiner verstorbenen Schwester in Empfang nahm. So gelang es ihm, weiterhin allen Schmerz um sich herum auszublenden, während ein warmes Kribbeln an seinen Beinen hinunterlief. Erst das Erscheinen des Arztes holte ihn in die traurige Realität zurück.
Nachdenklich und mit vor dem Bauch gefalteten Händen sah der Arzt eine Weile schweigend auf Petra hinab, bevor auch er: „Mein herzliches Beileid!“, sagte. Dann erst sah er auf und blickte in die Runde: „Wie schon erwähnt, ist es mir immer noch ein echtes Rätsel, was hier gerade geschehen ist und ich weiß natürlich, dass der Zeitpunkt nicht gerade passend ist. Dennoch möchte ich fragen, ob wir nachschauen dürfen, wieso es so unglücklich gekommen ist. Denn damit könnten sie vielleicht zukünftigen Patienten helfen, die sich in der gleichen Situation befinden.“
Herztumor, und zwar ein ganz besonders fieser, da sich dieser im gesunden Gewebe versteckt gehalten hatte, war die Diagnose, die ihm Doro am darauffolgenden Montag telefonisch mitteilte. Da die Chance an dieser Krankheit zu erkranken, einen Sechser in Lotto gleichkam und weil man außerdem ein paar Tage zuvor eine Probe aus Petras Herzen entnommen hatte, hatte der Arzt und seine Kollegen diese Möglichkeit ausgeschlossen. Und so hatte die Seltenheit dieser Krankheit ihm die Schwester geraubt, die er kurz zuvor erst wieder wahrgenommen hatte.
Die Trauer und Wut, die er darüber empfand, raubten ihm ad-hoc das letzte bisschen Kraft, welches er sich bisher noch erhalten hatte. Außerdem sorgten die bizarren Bilder aus dem Krankenhaus, die immer wieder vor seinem geistigen Auge auftauchten, für eine weitere durchwachte Nacht. Weshalb er sich völlig übermüdet und mit Kopfschmerzen am nächsten Morgen erneut auf den Weg zu seinem Hausarzt machte, um sich für den Rest der Woche krankschreiben zu lassen.
Am frühen Nachmittag des darauffolgenden Freitages betrat Ole mit gemischten Gefühlen das Friedhofsgelände in Elmschenhagen. War es doch der Ort, den er seit 25 Jahren mied wie der Teufel das Weihwasser, weil neben den Rest seiner Verwandtschaft auch seine Mutter hier begraben war. Das heißt, die Reste ihrer Gebeine werden hier vielleicht noch irgendwo in der Erde ruhen. Denn sein Vater hatte vor 5 Jahren ihre Grabstelle gekündigt, so dass jetzt wohl ein anderer Grabstein ihre letzte Ruhestätte zierte.
Als Kind wollte er die Erinnerung an seine Mutter unverfälscht in seinen Herzen behalten, weshalb er sich weigerte ihr Grab zu besuchen. Doch dann waren seine Erinnerung an sie, zusammen mit dem Rest seiner Kindheit irgendwann in sein Unterbewusstsein abgerutscht und erst mit Petras Tod wieder etwas an die Oberfläche zurückgekommen.
Als er seine Verwandten begrüßte, die überraschend zahlreich zu Petras Beerdigung erschienen waren, schob er den Gedanken an seine Mutter zur Seite und ging dann in die kleine Kapelle hinein. Dort wählte er einen Platz weiter hinten aus. Zum einen mied er Doros direkte Gegenwart, die in der ersten Reihe lautstark und für jedermann sichtbar um ihre Schwester trauerte. Denn er konnte ihren Schmerz, selbst aus dieser Entfernung noch, körperlich spüren und dieser zerrte an seinen noch nicht wiedererlangten Kraftreserven. Zum anderen fand er, stand ihm ein Platz dort vorne auch nicht zu. Denn er hatte in den vergangenen 23 Jahren, von einigen zufälligen Begegnungen mal abgesehen, gar keinen Kontakt mehr zu Petra gehabt.
Deshalb wartete er in diesem selbst gewählten Exil gespannt darauf, wie sich die Beerdigungszeremonie entwickeln würde. So wurde er gleich zum Anfang von der Trauerrednerin angenehm überrascht. Denn sie fand großartige Worte für Petra und ihren Lebensweg, was ihm jedoch überaus komisch vorkam. Zuerst wollte er dies damit abtun, dass es wohl ihr Job ist. Wusste er doch von Hörensagen, dass ihr erworbenes Handicap ihr das Leben nicht einfach gemacht hatte und dass ihr das langfristige Glück bei den Männern auch verwehrt blieb. Nachdenklich verfolgte er daraufhin sehr genau jeden einzelnen Wortbeitrag und hörte so heraus, dass die Aussagen der Trauerrednerin nicht beschönigt waren. Weshalb er immer betrübter wurde, weil er sich mit einem Mal um die Zeit mit ihr betrogen fühlte.
Zum Ende des ersten Teils der Zeremonie dröhnte auf einmal, auf ihren Wunsch hin: Hells bells von AC/DC, durch die Kapelle, was ihn zuerst entsetzte. Doch während sich im Mittelgang der kleinen Kapelle eine Prozession formierte, an dessen Spitze die Urne seiner Schwester feierlich aus der Kapelle getragen wurde, musste er lächeln. Denn den Gedanken: Auf den Weg in die Gruft, noch einmal dem Mittelfinger zu zeigen; fand er gut. Als er dann eigentlich an der Reihe war, sich in die Prozession einzureihen, blieb er jedoch einfach sitzen und starrte stattdessen auf die vielen Kränze und Gestecke, die er nun barrierefrei betrachten konnte. Dabei haderte er erneut mit seinem Schicksal und den Absichten, die vielleicht irgendeine höhere Macht dabei verfolgte.
Deshalb verließ er die Kapelle erst, als der Rest der Trauergäste schon lange bei dem Urnenfeld angekommen war, welches Petras letzte Ruhestätte bilden sollte. Jedoch entschied er sich spontan dagegen, sich dazu zu stellen. Stattdessen streifte er planlos übers Friedhofsgelände, da er den ganzen neuen Eindrücken einen Raum geben musste. Außerdem hoffte er dabei die Energie seiner hier begrabenen Verwandtschaft zu erspüren, um eine neue Inspiration oder irgendetwas anderes zu erhaschen, was sich jedoch nicht ergab.
Erst als es schon dämmerte suchte er ihre frische Grabstätte auf, wo er sich in der Habach Haltung vor ihren Kränzen aufbaute und diese eine Zeitlang erneut anstarrte. Dabei versuchte er sich an ihre gemeinsame Kindheit zu erinnern, wobei ihm zum ersten Mal nachhaltig bewusstwurde, dass diese, wie viele andere Dinge auch, in den Schatten seines Unterbewusstseins gefallen war.
Die Party
Am nächsten Tag fühlte Ole sich immer noch sehr niedergeschlagen. Die Leere und der nun sehr bewusste Verlust ließen die Faszien in seinem Rücken zusammenziehen und verkleben, womit sie ihn nicht nur körperlich lähmten. So erfasste er zuerst auch gar nicht, was Peter von ihm wollte, als er ungehalten aus dem Wohnzimmer heraufrief: „Ole, bist du denn nun bald fertig?“
„Oh verdammt, schon so spät!“, wurde ihm daraufhin gewahr, was sie heute Abend vorhatten. „Okay, ich komme gleich. Gib mir einfach noch eine Viertelstunde, dann bin ich so weit“, machte er sich mit steifem Rücken auf den Weg ins Badezimmer, um sich schnell ausgehfertig zu machen.
„Ach Ole, nicht schon wieder! Immer erscheine ich deinetwegen als Letzter auf einer Party“, maulte Peter unterdessen.
„Ja, ist ja schon gut!“, beantwortete Ole daraufhin harsch Peters Feststellung, bevor er die Badezimmertür hinter sich zu schlug.
Seitdem Peter bei Ole wohnte, traf er sich nun regelmäßig mit Maya, die heute Abend zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen hatte. So viel Ole von ihr wusste, lebt sie etwas abseits auf einem alten Gut bei Schönberg, das von ein paar Lebenskünstlern, wie Peter Mayas Mitbewohner mal abfällig tituliert hatte, bewirtschaftet wird. Dabei arbeitet sie als Sprechstundengehilfin für eine Heilpraktikerin, die ihre Praxis auf dem Gut betreibt.
Weil ihm ein solch alternativer Lebensstil, seit jeher viel zu suspekt ist, wollte er zuerst ablehnen, als Peter ihn vor ein paar Tagen fragte, ob er mitkommen wolle. Doch nach kurzem Zögern, schob er diesen Gedanken zur Seite und sagte zu, weil Peter unter anderen meinte, dass ihm ein wenig Abwechslung bestimmt guttun wird.
Also saßen sie nun in Peters Cabriolet und fuhren auf der B202 in Richtung Lütjenburg, um dann in Wittenberger Passau in Richtung Fargau / Pratjau abzubiegen, wo dann irgendwo dort, mitten in der Schleswig-Holsteinischen