Todesursache: Mord. Irene Dorfner
sie im letzten Moment immer eine Ausrede parat hatten, um der Einladung nicht nachzukommen. Sie sah auf ihre Uhr: Gerade mal 8 Minuten über der Zeit. Das war zu wenig, um sie beim Chef anzuschwärzen, aber sie würde die beiden weiter beobachten. Die 60 Jahre alte, sehr schlanke und viel zu modern gekleidete Frau mit der jugendlichen Kurzhaar-Frisur, in der seit zwei Tagen lilafarbene Strähnen leuchteten, ging wieder an ihren Schreibtisch im Vorzimmer von Rudolf Krohmer, dem Chef der Polizeiinspektion Mühldorf. Auch die Arbeit lenkte sie nicht von ihrer Vermutung ab, dass mit den beiden Kollegen etwas nicht stimmte. Sie hatte Schwartz und Hiebler genau beobachtet. Sie war sich sicher, dass die beiden etwas im Schilde führten, denn die ganze Körpersprache und die Art, wie sie miteinander sprachen, waren überdeutlich. Sie musste unbedingt herausbekommen, was hier los war.
Der Nachmittag erschien für Hans endlos lange. Er konnte es kaum erwarten, ausführlich mit jemandem über seine Doris zu sprechen. Aber noch mehr brannte er darauf, mit Leo einen Plan zu entwickeln und endlich damit anzufangen, herauszubekommen, wer seine Doris ermordet hatte.
Tante Gerda kam freudestrahlend auf ihren Neffen Hans zugelaufen, als er gegen 19.00 Uhr in den Hof fuhr. Innig umarmte und herzte sie ihn und das tat ihm sehr gut. Sie machte ihm Vorwürfe, warum er sich so lange nicht hatte blicken lassen, obwohl Hans erst vor zwei Wochen hier war, was für seine Tante aber viel zu lange war. Sie sah ihren Neffen an. Und was sie sah, gefiel ihr nicht.
„Du siehst nicht sehr gut aus, mein Junge. Was bedrückt dich?“
Sie sah ihm in die Augen und wusste sofort Bescheid, denn ihr konnte man nichts vormachen, in Herzensangelegenheiten kannte sie sich aus.
„Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen.“
Hans streichelte den Hund Felix, der ihn ständig ansprang und endlich auch beachtet werden wollte. Felix war der neue Begleiter von Tante Gerda. Den Hund hatte Leo in erbärmlichem Zustand bei einem der letzten Fälle befreit und der lebte seitdem ein glückliches Leben. Felix wurde von Tante Gerda nicht nur verwöhnt, sondern hatte auch völlige Narrenfreiheit; er konnte tun und lassen, was er wollte. Inzwischen schlief er sogar bei Tante Gerda im Bett und lag auf der teuren, neuen Couch, die sich seine Tante kürzlich geleistet hatte.
„Ich bin mit Leo verabredet,“ sagte Hans knapp und Tante Gerda verstand sofort, dass die beiden allein sein wollten und etwas zu besprechen hatten. Sie kannte nicht nur ihren Neffen Hans sehr gut, sondern hatte in den letzten Monaten auch ihren Mieter Leo sehr gut kennengelernt, den sie ebenfalls in ihr Herz geschlossen hatte. Man brauchte ihr nichts sagen, sie sah es in den Augen der beiden: Hans hatte ein Problem und Leo wollte ihm dabei helfen. Um was es dabei ging, würde sie noch früh genug erfahren. Tante Gerda war eine sehr weise Frau, die jede Menge Erfahrungen gesammelt hatte. Hinter ihr lag ein sehr bewegtes Leben, von dem kaum jemand etwas wusste, nicht einmal Hans und dessen Familie; und dabei sollte es auch bleiben. Sie war weit gereist und hatte viel erlebt. Aber jetzt, im hohen Alter, hatte sie sich vor sechs Jahren diesen kleinen Hof gekauft und sich zur Ruhe gesetzt.
„Setz dich Hans. Erzähl nochmals ausführlich und in Ruhe von deiner Doris. Ich werde dir zuhören und erst später Fragen stellen.“
Leo hatte eine Flasche Wein geöffnet und lehnte sich mit seinem Glas in den bequemen Sessel zurück. Die kleine Wohnung im ersten Stock, die über eine Außentreppe zu erreichen war, war sehr geschmackvoll und gemütlich eingerichtet. Hier sah es fast so aus, wie in seiner alten Wohnung in Ulm, die er nur ungern aufgegeben hatte. Er war hier nicht mehr fremd, wozu vor allem Tante Gerda und beitrug. Die Umgebung um den Hof erinnerte Leo an seine geliebte Schwäbische Alb, die er unzählige Male mit dem Rucksack durchlaufen hatte und die er neben seinen Ulmer Freunden und Kollegen sehr vermisste. Erst vor zwei Wochen war er in Ulm gewesen und hatte ein Wochenende dort verbracht. Dabei hatte er sich eingestehen müssen, dass er sich abgenabelt hatte und nicht mehr nach Ulm gehörte.
Hans war nervös und wusste zunächst nicht, wo er anfangen sollte. Leo drängte nicht, sondern wartete geduldig.
„Ich habe Doris vor knapp sechs Wochen in einem Supermarkt in Mühldorf kennengelernt. Sie war zu klein, um an den Kaffee oben im Regal zu gelangen und ich habe ihr meine Hilfe angeboten. Später an der Kasse haben wir uns wiedergesehen. Du kennst mich, das war natürlich kein Zufall. Ich habe sie auf eine Tasse Kaffee eingeladen, was sie zunächst abgelehnt hatte, sie schien Angst vor mir zu haben. Verständlich, es laufen schließlich genug kaputte Typen rum. Ich gab nicht auf, diese Frau konnte ich mir nicht entgehen lassen. An einem Stand vorm Supermarkt habe ich Kaffee in Pappbechern gekauft und wir haben bei den Einkaufswägen den Kaffee getrunken und uns dabei blendend unterhalten. Daraufhin haben wir uns zum Abendessen verabredet. Was soll ich dir erzählen, du weißt doch selbst, wie so was läuft. Seit der Zeit waren wir unzertrennlich. Doris war wirklich etwas ganz Besonderes: intelligent, witzig, ein bisschen melancholisch und schüchtern, aber sehr zuverlässig und einfach sehr, sehr warmherzig. Keine von den oberflächlichen Tussen, die sich nur für banale Dinge interessieren. Wenn sie lachte, dann hatte sie so kleine Grübchen in den Wangen und kiekste ein wenig. Ihr war das peinlich, ich fand das umwerfend. Sie war wunderschön. Nichts an ihr war gekünstelt, alles war echt. Ich war mir bei ihr sicher, dass sie mich niemals anlügen oder mir etwas vormachen würde. Man konnte mit ihr über alles Mögliche sprechen, sie war in vielen Bereichen intelligenter und belesener als ich, konnte überhaupt nicht kochen und war etwas chaotisch. Was soll ich noch sagen, außer, dass ich sie sehr geliebt habe?“
Hans hielt kurz inne und musste tief durchatmen, denn vor Leo wollte er unter keinen Umständen erneut losheulen. Das heute auf dem Parkplatz der Polizei war ihm im Nachhinein sehr peinlich. Aber die Bilder in seinem Kopf wurden durch seine Beschreibungen so lebendig, als würde Doris direkt vor ihm stehen und ihn anlächeln Es tat so weh, dass sie nicht mehr da war, nicht mehr mit ihm lachte und er sie nicht mehr anfassen konnte.
Leo hatte Hans noch nie so reden hören, er muss Doris sehr geliebt haben. Hans hatte sich in den letzten Wochen rar gemacht und hatte immer blendende Laune. Leo hatte sich nichts dabei gedacht, schließlich war Hans einer der Typen, die mit einem sonnigen Gemüt gesegnet waren.
„Was war Doris von Beruf? Was weißt du über die Familienverhältnisse?“ Leo brauchte alle Informationen, die er kriegen konnte.
„Von Beruf war sie Krankenschwester und arbeitete im Krankenhaus Altötting. Der Schichtdienst war problematisch, aber wir haben das irgendwie hinbekommen und jede freie Minute genossen. Doris war nie verheiratet und hatte auch keine Kinder, obwohl sie sich immer welche gewünscht hatte. Ihre Eltern waren tot, starben kurz hintereinander. Sie hat den Hof geerbt, der seit Generationen in Familienbesitz ist. Ich weiß, dass sie einen Bruder hat, den erwähnte sie einmal beiläufig; seinen Namen habe ich vergessen. Die beiden hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr. Warum, kann ich dir nicht sagen. Mehr weiß ich über die Familienverhältnisse nicht. Genaueres erfahren wir eventuell aus der Polizeiakte.“
Hans zog aus seiner Jackentasche ein Bündel Papiere hervor.
„Woher hast du die?“ Leo war sofort aufgesprungen. „Sag mir jetzt bitte nicht, dass du die Unterlagen geklaut hast?“
„Wie es der Zufall will, musste ich heute zu den Altöttinger Kollegen. Ich wusste ja, wer den Fall bearbeitet hatte. Bei einer günstigen Gelegenheit konnte ich die Unterlagen, na sagen wir mal, kurz ausleihen. Aber keine Angst, das sind nur Kopien, die Originale sind wieder an ihrem Platz. Bis auf die Fotos, die habe ich mitgehen lassen. Wenn ich die kopiert hätte, hätten wir darauf nur wenig erkennen können.“
„Du bist doch komplett irre! Was, wenn dich jemand gesehen hätte?“
„Keine Sorge, das hat niemand mitbekommen. Sich jetzt noch darüber aufzuregen, ist Zeitverschwendung. Ich habe die Informationen, die wir brauchen, und damit basta. Ich habe die Unterlagen selbst noch nicht gelesen, ich bin von der Altöttinger Polizei direkt hierhergefahren.“
Leo war entsetzt, welche Risiken Hans auf sich nahm. Schon alleine die Tatsache, die Unterlagen zu entwenden und dann auch noch Kopien davon anzufertigen: Der blanke Wahnsinn! Allerdings bestätigte das nochmals, wie sehr Hans davon überzeugt war, dass seine Doris umgebracht wurde.
Beide lasen den Inhalt der Unterlagen, die sehr