Sky-Navy 20 - Die verborgene Welt. Michael Schenk
Es handelte sich um einen ungefähr kopfgroßen Würfel aus blau schimmerndem Metall. Die Unterseite war glatt. Eine Seite war mit mehreren Anschlussbuchsen versehen und die übrigen mit zahllos erscheinenden glasartigen Punkten bedeckt. Um den unteren Rand zogen sich mehrere Klammern, die in ihrem Aussehen und ihrer Funktion eine frappierende Ähnlichkeit mit den üblichen Schnellverschlüssen von Transportbehältern aufwiesen.
Welche besondere Bedeutung diesem Objekt zukam, wurde auch daran deutlich, dass Labor 408-SR-06 als Sperrgebiet galt und von einem halben Platoon der Sky-Cavalry bewacht wurde. Diese Männer und Frauen trugen die volle Gefechtsausrüstung und alle Systeme ihrer Kampfanzüge waren aktiviert.
Der geheimnisvolle Würfel war der Datenkern des kleinen Kreuzers Liramaar, der beim Angriff der Negaruyen auf den Mars von den Verteidigungskräften abgeschossen worden war. Wie durch ein Wunder war der Datenträger intakt geblieben und nach seiner Entdeckung unter höchster Geheimhaltung zur Sky-Base gebracht worden. Die Sicherheitsmaßnahmen waren extrem, denn noch immer mussten sich genetisch angepasste Negaruyen, die sogenannten Infiltratoren, unerkannt unter den Menschen aufhalten. Es gab keinen Zweifel, dass sie zu jeder Verzweiflungstat bereit sein würden, sollten sie von dem Würfel erfahren, denn auch die Menschen erhofften sich nichts weniger, als mit seiner Hilfe die Positionsdaten der verborgenen Welt zu finden.
Seit sich der Würfel auf der Basis befand, hatte Jennifer Hartmann das Labor kaum verlassen und wenn sie eine der kleinen Offiziersmessen oder ihr Quartier aufsuchte, dann stets in Begleitung eines handverlesenen Quartetts wachsam dreinblickender Trooper. Gleiches galt für die Handvoll anderer Spezialisten, die im Labor arbeiteten.
Hoch-Koordinatorin Candice Bergner pendelte immer wieder zwischen dem Labor und den Versuchen im Werfthangar 3 hin und her. An diesem Tag war die Endabnahme der Umbauten an der Orion erfolgt. Der Wabenschirm konnte, nach Zustimmung des hohen Rats des Mars, endlich in Serienfertigung gehen. So war Candice erleichtert, wenigstens diesen Punkt auf ihrer To-do-Liste abhaken zu können.
Obwohl man sie natürlich kannte, wurde sie sorgfältig kontrolliert, bevor man sie in das Labor einließ. Gemeinsam mit Jennifer Hartmann waren derzeit fünf weitere Männer und Frauen dabei, an dem Würfel zu arbeiten. Eine davon war Doktor Yuki Hasagawa von der Firma Mars-Tetra-Tronics, eine für die Navy vereidigte Tetronik-Spezialistin, die schon bei der Hanari-Mission mitgeflogen war.
Das Licht im Labor war gedämpft und indirekt. In der Mitte stand die Säule mit dem Datenkern, entlang der Wände Arbeitsplätze und Konsolen mit einer Vielzahl tetronischer Untersuchungs- und Messgeräte. Etliche Monitore und holografische Bildschirme zeigten den Würfel und laufende Messungen. Allein die richtigen Anschlüsse und die korrekte Stromversorgung zu ermitteln, hatte fast zwei Wochen in Anspruch genommen. Der Erfolg darin war im Grunde nur einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen.
Vor einiger Zeit war es den Negaruyen unter Primär-Kommandantin Desara-dal-Kellon gelungen, den APS-Kreuzer D.S. Nanjing in eine Falle zu locken und zu erobern. Die Negaruyen hatten das Schiff benutzt, um Überfälle auf Norsun durchzuführen und so Unfrieden zwischen diesen und den Menschen zu säen. Ein letztes Mal war die Nanjing verwendet worden, um den heimtückischen Überfall auf die Sky-Base Rigel durchzuführen. Dabei war die Nanjing wieder in die Hände der Menschen gefallen.
Hier hatte es sich als Glücksfall erwiesen, dass die Negaruyen das Schiff für ihre Zwecke verwendet hatten. Die Tetroniken der Menschen und die eTroniken der Negaruyen unterschieden sich bedeutend voneinander und es war den Negaruyen nicht gelungen, alle Kodierungen zu entschlüsseln. So waren sie gezwungen gewesen, ihre eigenen eTroniken entsprechend zu modifizieren, um wichtige Funktionen der Nanjing kontrollieren zu können. Diese Modifikationen hatten den Menschen nach der Rückeroberung des Schiffs eine ganze Reihe von Erkenntnissen über die Datenformate und die Datenübertragung des Feinds geliefert. Informationen, die bei der Entschlüsselung und Auswertung des Datenkerns der Liramaar hilfreich waren, ihn jedoch keineswegs leichter machten.
Bei aller Ordnung und Sterilität hatte sich das Labor 408-SR-06 in etwas verwandelt, was gegen die Prinzipien von Candice Bergner verstieß, das sie jedoch notgedrungen tolerierte, da das Wohlbefinden der hier Tätigen ein wesentlicher Faktor war, der zum Erfolg beitrug. So sah sie mit heimlichem Zähneknirschen über das hinweg, was sie im Inneren als Müllhalde verurteilte.
Zwei Labortische waren abgeräumt, mit Polsterauflagen und Schlafsäcken versehen worden und als Candice ins Labor trat, konnte sie das leise pfeifende Schnarchen eines Laborassistenten vernehmen. Leere Essensbehälter und Trinkgefäße stapelten sich neben der Tür, ein paar private Holografien und sogar zwei Kuscheltiere schufen so etwas wie eine private, gemütliche Atmosphäre, und um eine altmodische Kaffeemaschine war eine erkleckliche Anzahl an Bechern und Kaffeeringen auf der Tischplatte verteilt.
Der Hoch-Koordinatorin sträubten sich die Nackenhaare, doch noch mehr missfielen ihr die dunklen Schatten, die um die Augen des Untersuchungs-Teams zu erkennen waren. Die Männer und Frauen arbeiteten bis zur Erschöpfung und das war nicht gut. Wer übermüdet war, der machte auch Fehler.
An der Wand hing ein handgemaltes Schild mit einem Spruch, der Candice merkwürdig bekannt vorkam, den sie jedoch nicht zuordnen konnte: „Wenn man alles Wahrscheinliche als unmöglich ausgeschlossen hat, so wird das Unmögliche zum Wahrscheinlichen.“
Jennifer Hartmann nippte gerade an ihrem Becher und bemerkte dabei ihre Vorgesetzte. Ein müdes Lächeln umspielte ihre Lippen. Es war ein Lächeln, wie es die junge Spezialistin schon lange nicht mehr gezeigt hatte. Candice ahnte sofort, dass es einen erheblichen Fortschritt gegeben haben musste.
„Nun, Jennifer, wie sieht es aus? Sie strahlen, als wäre es Ihnen endlich gelungen, die Daten zu entschlüsseln.“
„Nicht wirklich“, antwortete Jennifer müde und deutete auf Yuki Hasagawa, die neben ihr saß und deren Kopf unter einem Virtual-Reality-Helm verschwand, mit dessen Hilfe sie sich im Datenstrom bewegte. „Aber Yuki hat etwas entdeckt, dass uns endlich weiterbringt.“ Sie beugte sich vor und klopfte gegen den Helm. Das musste sie mehrfach tun, bis die japanischstämmige Tetronik-Spezialistin reagierte.
Bergner erschrak zutiefst, als sie in ihre Augen sah. „Sie haben etwas entdeckt, Doktor Hasagawa?“
Die junge Frau atmete mehrmals tief durch, warf den schweren Helm achtlos auf einen benachbarten Tisch und füllte ihren Becher auf. Erst nach einigen kräftigen Schlucken und undefinierbaren Seufzern nickte sie langsam. „Eigentlich verdanken wir es unseren Chiffrier-Spezialisten vom Nachrichtendienst, Professor. Es geht dabei um die Häufigkeit. Sehen Sie, bei der Dechiffrierung eines Textes geht man davon aus, das bestimmte Buchstaben des Alphabets in unserer Sprachen nun einmal am häufigsten vorkommen und benutzt werden. Dann sucht man im kodierten Text nach den Zeichen, die ebenfalls am häufigsten vorkommen. Eine uralte Methode, die schon zu Napoleons Zeiten angewandt wurde.“
„Nun, wer immer auch Napoleon war“, brummte die Hoch-Koordinatorin, „inwieweit bringt er oder sie oder es uns in unserer Sache weiter?“
Hasagawa nahm einen neuen Schluck. „Es ist nur eine Kleinigkeit, aber das am häufigsten vorkommende Zeichen sind bei einem Datenspeicher keine Buchstaben oder Zahlen, sondern die Trennungen. Zwischen jedem Ordner, jeder Datei, jedem Buchstaben und jeder Zahl muss es ja ein trennendes Zeichen, das Leerzeichen, geben. Das muss am häufigsten vorkommen und dieses Zeichen habe ich gefunden.“
Jennifer Hartmann deutete Applaus an und grinste. „Und noch mehr.“
„Danach war es wieder ausgesprochene Teamarbeit“, erklärte die Spezialistin weiter. „Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass eine Textdatei weniger Zeichen benötigt als eine Grafik- oder Bilddatei und dass die größte Anzahl an Daten in Video- oder holografischen Sequenzen enthalten sein müssen.“
„Ich glaube, es ist uns gelungen, diese Dateitypen voneinander zu trennen“, meldete sich Jennifer zu Wort. „Wobei uns eine Sache wirklich hilfreich war. Das Speichern der Nachrichten, welche die Negaruyen über ihren Schwingungsfunk senden. Dabei sind sie ja denselben Problemen unterworfen wie wir. Auch sie können nur mit kurzen oder langen Impulsen den Nullzeit-Funk nutzen. Wir