Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse
dieses Glück gleich zerstören würde, machte es ihm nicht gerade einfacher, seinem Boss unbedarft entgegenzusehen und zu lächeln.
Jon war sicher, dass Michael nicht damit rechnete, wie wenig seine Schwester noch immer selbst konnte. Annabell hatte in den letzten Wochen fast jede Therapiemaßnahme verweigert, oder bestenfalls teilnahmslos über sich ergehen lassen. Ihr Lebenswille schien erloschen zu sein. »Dann werde ich Annabell mal holen gehen, was?«, versuchte er dennoch, einen ungezwungenen Ton an den Tag zu legen. Michael nickte lediglich und klopfte ihm auf die Schulter.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen machte sich Jonathan auf den Weg in Annabells Zimmer. Er konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, wie es sich für sie anfühlen musste, ihr Schicksal in fremde Hände legen zu müssen, aber er gewann mehr und mehr den Eindruck, dass sie begann, sich ihm gegenüber etwas zu öffnen. Es waren nur minimale Fortschritte, aber enorm wichtig für ihre Genesung. Nachdem er geklopft hatte, öffnete er die Tür zu ihrem Zimmer. Er klemmte sie fest, damit sie offenblieb, und trat ein.
»Der Shuttle-Service ist da!«, lächelte er Annabell an, nachdem sie den Kopf langsam in seine Richtung gedreht hatte. Sie lag auf dem Bett, bereits vollständig angezogen. Sein Blick glitt zu dem Rollstuhl, der in der Ecke stand. Es war kein Normaler, wie man ihn fast täglich auf den Bürgersteigen New Yorks sehen konnte, sondern eine Spezialanfertigung. Bis auf ihren Kopf und beide Arme konnte Annabell zur Zeit kaum etwas bewegen, der Muskelabbau war zu gravierend gewesen.
Daher benötigte sie einen Rollstuhl, der ihren Körper besonders gut stützte. Es würden noch viele Monate ins Land gehen, und einiges an Therapie bedürfen, bevor sie auch nur daran denken konnte, sich einigermaßen selbstständig fortbewegen zu können.
»Guten Morgen, Jonathan«, entgegnete Annabell mit angestrengtem Lächeln, und ihrem Ton war anzuhören, dass ihr Morgen alles andere als gut gewesen war. Sie musste täglich Übungen machen, die ihren Muskelaufbau in die Gänge bringen sollten und diese ganzen Prozeduren waren enorm anstrengend für ihren Körper. Er wusste, dass sie oft Schmerzen litt und doch klagte sie nicht. Zwar hatte sie einen Perfusor bekommen, mit dem sie sich in kleinen Dosen selbst Schmerzmittel zuführen konnte, aber sie litt auch unter üblen Muskelkrämpfen.
Er lenkte seine Schritte zum Rollstuhl, löste die Bremse und schob ihn an ihr Bett. »Bereit für die Fahrt nach Hause?«, fragte er und biss sich im gleichen Moment auf die Lippe. Wie soll sie sich auf etwas freuen können, an das sie sich nicht erinnert, Volltrottel? Er spürte die Hitze in seine Wange steigen, murmelte ein »Sorry.« Dann machte er sich an ihrem Schrank zu schaffen, und nahm die Tasche heraus, die ihre wenigen Habseligkeiten enthielt. Sogar der Beutel mit den Thrombosespritzen, Magentabletten, Vitaminen und den Aufbaupräparaten, die sie zu sich nehmen musste, war voller.
»Ist ... mein Bruder draußen?«, fragte ihre leise Stimme in seinem Rücken. Er nickte langsam, holte noch einmal tief Luft und drehte sich dann zu Annabell um. »Ja. Er wartet im Flur. Bist du bereit, oder willst du lieber ... noch einen Moment warten?« Er sah sie fragend an. Sie zögerte, dann aber trat ein entschlossener Ausdruck auf ihr Gesicht. »Nein. Packen wir es an.« Dann entwich ihr ein kurzes, bitteres Lachen. »Oder besser ... du solltest es anpacken!«, fügte sie sarkastisch hinzu.
Er schob ihr einen Arm unter den Kniekehlen und den anderen unter ihrem Arm hindurch quer über den Rücken. Dann hob er sie hoch, setzte sie vorsichtig in den Rollstuhl hinein und verpackte sie sorgsam mit einer Decke, damit sie draußen nicht fror.
Der Stuhl besaß einen ausklappbaren Tisch, auf dem man Getränke, Zeitschriften und Ähnliches ablegen, und einen elektrischen Antrieb, den sie mittels eines kleinen Steuermoduls mit der Hand starten und steuern konnte.
Im Moment war Annabell mit dieser Art der Fortbewegung noch nicht besonders glücklich. Sie befand sich in einer Phase der Genesung, in der sie mit allem haderte. Sie ließ jede Art der Behandlung teilnahmslos über sich ergehen, starrte oft stundenlang nur aus dem Fenster und gab - wenn überhaupt - nur einsilbige Antworten. Jonathan nannte das die Leck mich am Arsch und lass mich einfach sterben - Phase. Er sah dieses Verhalten bei vielen Patienten, die nach schwerer Krankheit oder einem Unfall in eine Situation gerieten, in der sie auf ständige Hilfe von außen angewiesen waren. Aber aus eben jener Erfahrung heraus wusste er, dass bei den meisten irgendwann der Moment der Akzeptanz kam, und dann wurde es einfacher. Für alle.
»Na, dann wollen wir mal!«, murmelte er, löste die Bremse vom Rollstuhl und lenkte ihn nach draußen. Ihm war klar, dass jetzt der Augenblick kam, indem Michael zum ersten Mal das Ausmaß des Gesundheitszustand Annabells wirklich realisieren würde. Zwar wusste sein Boss, wie es um sie bestellt war, aber etwas zu wissen, und es dann zu sehen, war etwas ganz anderes. Das sollte ihm eigentlich nichts mehr ausmachen, er arbeitete in diesem Job seit fast 15 Jahren, doch Anna und ihr Bruder bildeten die Ausnahme. Er war jetzt seit über vier Jahren für die Thompsons tätig, und sein Verhältnis zu Michael war dem eines reinen Angestellten längst entwachsen.
Je näher sie ihm kamen, desto deutlicher konnte Jonathan die Erschütterung erkennen, welche Michael erfolglos versuchte zu verbergen. Er hatte seine Schwester immer nur liegend oder während den Bewegungstherapien gesehen. Und obwohl er selbst schon mehrfach probiert hatte, seinen Boss darauf vorzubereiten, schien die tatsächliche Einschränkung ihm ganz offensichtlich erst jetzt bewusst zu werden, bei ihrem Anblick im speziellen Rollstuhl.
Er schob Annabell an ihm vorbei und warf ihm einen bezeichnenden Blick zu, den dieser nach einem Moment der Verwirrung verstand und sich sichtlich zusammenriß. Gemeinsam verließen sie das Therapiezentrum und kamen nach kurzer Strecke auf dem Parkplatz an, wo das Auto bereitstand. Mit der Fernbedienung öffnete Michael den Wagen, die Seitentür verschob sich und die Rampe fuhr vollautomatisch heraus.
Jonathan schob Annabell hinein und arretierte den Rollstuhl in der dafür vorgesehenen Vorrichtung. Dann lächelte er ihr noch einmal aufmunternd zu, kletterte er wieder aus dem Auto und übernahm den Schlüssel von Michael. Er würde die Fahrt nach Hause übernehmen, damit die beiden die Zeit zusammen verbringen konnten.
»Ich möchte, dass Jonathan hinten bei mir sitzt.«
Annabell
Seit sie aufgewacht war, schwirrten Ärzte, Pfleger, Therapeuten um sie herum. Aber auch der Bruder, an den sie sich nicht erinnern konnte, saß immer wieder an ihrem Bett, sprach mit ihr, zeigte ihr Bilder.
Doch sie konnte sich einfach nicht erinnern. Alle Menschen um sie herum waren ihr fremd und doch war sie auf ihre Hilfe angewiesen. Sie verabscheute es.
Jeden Tag führten sie mit ihr Untersuchungen durch, bei denen ihr die Ärzte freudestrahlend mitteilten, dass bisher keine Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen und ein schneller Heilungsverlauf zu erwarten seien. Der Gedächtnisverlust würde ganz sicher auch noch weggehen und irgendwann könnte sie sich an die Vergangenheit und ihre Familie erinnern. Allerdings hielten sich die Ärzte mit der Prognose um die Erinnerung an den Unfallhergang sehr bedeckt.
Aber wollte sie das? Wollte sie sich wirklich erinnern? Als ihre Stimme wiederkam und sie fragte, was mit ihr passiert war, wich man ihr aus. Keiner, noch nicht einmal ihr Bruder, wollte ihr davon berichten. Man würde erst mit ihr darüber sprechen, wenn Erinnerungsfetzen zurückkamen, oder sie sich komplett erinnerte. Am Anfang hatte sie noch mit Wutausbrüchen reagiert, teilweise das Essen verweigert und doch war man der Meinung, dass eine Konfrontation mit den Geschehnissen nicht förderlich für ihre Genesung sein würde.
Sie alle machten ein großes Wettschweigen daraus und jeden Tag, den sie an das Bett gefesselt war und sich tiefer in ihre kleine Welt zurückzog, wollte sie weniger wissen, was ihr zugestoßen war. Mittlerweile war es ihr scheißegal. Sollten sie doch alle an dem Geheimnis ersticken.
Ärzte kamen und gingen. Und als sie nach der ersten Woche in ein Therapiezentrum für Langkomapatienten verlegt wurde, begann die Zeit, in der sie sich immer mehr wünschte, sie wäre nie aufgewacht, oder aber man möge ihr einfach ein Ende bereiten.
Mehrmals täglich wurde mit ihr trainiert um die Muskeln wiederaufzubauen, so meinten die Therapeuten, und bei diesen Sitzungen hätte sie am liebsten