Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse
besonders. Die Schmerzen, die bei jeder Bewegung durch ihren Körper jagten, waren kaum auszuhalten.
Aber sie war still, ließ es über sich ergehen und hoffte, dass der Tag kommen würde, an dem man ihr eine Spritze setzte und ihr den letzten Schuss gab.
Man verlangte von ihr, dass sie mitarbeitete - aber wofür? Wollte sie wirklich noch Monate herumliegen, nicht viel tun können und von fremden Menschen umgeben sein? Nein, keinesfalls und doch war sie nicht einmal in der Lage, all dem hier selbst ein Ende zu bereiten.
Die meisten ihrer Tage verbrachte sie damit stoisch aus dem Fenster zu schauen.
Und dann war da noch Jonathan. Wie sie von ihm erfuhr, hatte er sie die letzten vier Jahre gepflegt. Auch jetzt war er an ihrer Seite, machte Übungen und erzählte viel. Sie ließ ihn reden, antwortete nur einsilbig und ließ ansonsten seine Worte wie Regentropfen an sich abprallen. Trotzdem war er der Einzige, der es schaffte, sie wenigstens ab und zu aus dem Loch zu holen, obwohl er ihr Dinge erzählte, die ihr eigentlich nichts sagten und auch egal waren.
Ganz am Anfang, als ihre Stimme ihr wieder gehorchte, hatte sie darauf bestanden, dass er sie nicht mehr nackt sah. Es war ihr egal, ob er ihren Körper die letzten vier Jahre schon gesehen hatte, aber sie wollte jetzt, wo sie bei Bewusstsein war, nicht, dass er weiterhin Dinge tat, wo er mehr als nur die Arme oder Beine sah.
Nach fünf Wochen im Therapiezentrum, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, waren die Ärzte so zufrieden, dass sie nach Hause entlassen werden konnte. Nach Hause – welch ein Hohn. Sie wurde in die nächste fremde Umgebung gebracht, die sich aber nun ihr Zuhause nannte.
Als Jon sie vor einigen Tagen gefragt hatte, ob sie sich schon freue, hatte sie ihn, wie so oft davor, angelogen. Immer wenn er sie fragte, wie es ihr ging, log sie. So auch, ob sie sich auf ihr Zuhause freute.
Natürlich hatten ihr Michael und auch Jonathan bei den vielen Erzählungen von Thompsons Retreat erzählt. Von Emma, von Susan mit ihrer Tochter Cassandra und somit auch, dass sie Tante war. Bei dem Wort Tante stiegen kurz wie ein sanfter Flügelschlag Gefühle in ihr auf, aber dann waren sie auch schon wieder weg. Nicht greifbar für sie und nur Frustration blieb zurück.
Als Jonathan das Zimmer betrat, wand sie den Blick zu ihm.
»Der Shuttle-Service ist da!«, lächelte er sie an.
Ihr dagegen war überhaupt nicht zum Lächeln zumute und doch rang sie sich dazu durch, nicht ihre wahren Gefühle zu zeigen, und grüßte ihn, wie sie es immer tat.
Er holte den Rollstuhl, schlug die Decke zurück, um sie hochzuheben. Es war nicht das erste Mal, dass er sie auf die Arme nahm, es war aber das erste Mal, dass sie sich am liebsten ängstlich in sein Shirt gekrallt hätte. Ja, es ging nach Hause, aber für sie fühlte es sich an wie der Gang zum jüngsten Gericht.
Hilflos musste sie über sich ergehen lassen, dass ihr Körper so schwach war und ihr nicht gehorchte. Jonathan setzte sie in den ihr so verhassten Rollstuhl, achtete darauf, dass sie es auch gemütlich hatte, und schob sie dann aus dem Zimmer hinaus.
Sie erkannte sofort den geschockten Blick von Michael, der im Flur schon auf sie wartete. Sie ahnte, was sie für ein Bild abgab und der Wunsch, dem allem zu entfliehen, wurde übermächtig.
Auf dem Parkplatz wurde sie zu einem Van gebracht und Jonathan schob sie auf die Rampe, die er zuvor hatte herunterfahren lassen. Im Auto arretierte er ihren Rollstuhl und stieg dann mit einem Lächeln aus.
Panik kroch in ihr hoch, denn anscheinend sollte Michael die Fahrt über bei ihr sitzen. Doch der eigene Bruder war ihr fremder als ihr Pfleger und so fällte sie zum ersten Mal eine eigene Entscheidung: »Ich möchte, dass Jonathan hinten bei mir sitzt.«
Sie mied den Blick von Michael und sah stattdessen in das überraschte Gesicht von Jon, der sich aber schnell wieder fing. Auch er spielte ihr gegenüber eine Rolle, die er einnahm, um sie nicht noch weiter herunterzuziehen. Das hatte sie ganz schnell herausgefunden. Immer wenn er dachte, sie würde es nicht bemerken, enthielt sein Blick eine tiefe Traurigkeit, die ihr Herz berührte. Aber sie konnte ihm einfach nicht sagen, dass es nicht seine aufgesetzte Fröhlichkeit war, die zu ihr durchdrang, sondern sein wahres Gesicht, wenn er zeigte, wie es um sie stand.
Jonathan setzte sich neben sie und beide Männer erzählten ihr während der langen Fahrt etwas über das Anwesen, wer alles auf sie wartete. Doch sie schaute aus dem Fenster und blendete die Worte aus, denn die Angst kroch ihr schon wieder den Rücken hinauf.
***
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weggedöst war, erst als sie sanft an der Hand berührt wurde, schreckte sie hoch.
»Wir sind jetzt gleich da, Annabell. Wir fahren soeben die Auffahrt zu Thompsons Retreat hoch«, klärte Jonathan sie mit ruhiger Stimme auf.
Als das Haus in Sichtweite kam, riss dessen Anblick sie aus ihrer Lethargie. Es war wirklich wunderschön und ein leicht vertrautes Gefühl stieg in ihr auf. Auch wenn sie es nicht benennen konnte, fühlte es sich tatsächlich an, als ob sie nach Hause kam.
Michael parkte direkt vorm Eingang, wo sie beim Herausfahren aus dem Auto einen Lift erkannte, den man für sie angebracht hatte. Denn Treppenstufen führten hinauf zur Eingangstür, die sich just in dem Moment öffnete.
Eine junge Frau mit einem Kind trat heraus und dahinter folgte eine ältere Frau, die mit einem Taschentuch ihre Augen betupfte.
Ihre Blicke trafen sich und obwohl Annabell die Frau nicht kannte, verließ ein einziges Wort ihren Mund: »Emma.«
Jonathan
Annabell driftete ihm wieder einmal weg. Während er versuchte, sie mit Erzählungen auf das Kommende vorzubereiten, ließ sie alles emotionslos über sich ergehen. Sie sah aus dem Fenster, schlief irgendwann ein und er beließ es dabei, nicht ohne sie sorgenvoll zu betrachten. Als sie schließlich das Anwesen erreichten, berührte er sie sanft an der Hand. Sie schreckte hoch und sah ihn verwirrt an. »Wir sind jetzt gleich da, Annabell. Wir fahren soeben die Auffahrt zu Thompsons Retreat hoch«, erklärte er mit ruhiger Stimme.
In Zeitlupe drehte sich ihr Kopf in die von ihm gezeigte Richtung, und zum ersten Mal seit Langem hatte er das Gefühl, das etwas Leben in ihr Gesicht zurückkehrte. Nachdem sie vorgefahren waren, entriegelte er die Seitentür und löste die Sicherungen des Rollstuhls. In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Susan, Cassandra und Emma traten hinaus. Annabells Blick glitt zum Eingang, ihre Augen weiteten sich und dann sagte sie: »Emma.« Abrupt hielt er in der Bewegung inne.
Michael, der gerade ausgestiegen war, ließ die Autoschlüssel fallen und starrte seine Schwester mindestens ebenso schockiert an, wie er selbst es tat. Auch Annabell wirkte überrascht, sie blinzelte mehrfach irritiert. Die Haushälterin, die ein Taschentuch in den Händen hielt und sich damit die Augen betupfte, schluchzte auf und eilte los, so schnell sie ihre Beine trugen. Jonathan trat mit mühsamem Lächeln ein paar Schritte zurück, machte Platz.
Dann hockte Emma auch schon neben Annabell im Auto, hielt ihre Hand und weinte leise. Er kletterte aus dem Wagen und gesellte sich zu Michael, der noch immer erschüttert die Szene betrachtete. Susan war mit Cassandra auf dem Arm zu ihnen getreten, auch sie hatte Tränen in den Augen, während sich Cassy plappernd an ihre Mutter klammerte.
Sie hatte Emma erkannt, und das war ein gutes Zeichen, oder? Schweigend musterte er Annabell, las in ihrem Gesicht die unterschiedlichsten Emotionen, aber am deutlichsten die Verwirrung. Und so leid es ihm in diesem Moment auch für die Haushälterin tat, war ihre Mimik für ihn der Punkt, an dem er eingreifen musste. »Emma«, sagte er sanft und berührte sie am Arm. »Anna muss aus dem Rollstuhl raus, die Fahrt war lang.« Das war nicht ganz die Wahrheit, würde die Haushälterin aber weniger treffen. Annabells Augen flogen zu ihm, offene Dankbarkeit leuchtete ihm entgegen. Er zwinkerte ihr zu und stieg dann in den Wagen, um sie der Situation zu entziehen.
Er brachte Annabell auf ihr Zimmer und blockte in den nächsten Stunden alle Versuche seitens Michael und Emma ab, sie zu besuchen. Freundlich, aber bestimmt verscheuchte