Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse
und Jonathan verfrachtete sie auf den Rücksitz. Die Scheiben waren abgedunkelt und kühle Luft empfing sie. Fast schon enttäuscht wartete sie im Inneren, bis das Gepäck verstaut war, Jon sich neben sie setzte und der Fahrer sie zur genannten Adresse fuhr.
Hatte sie die Aussicht im tristen New York nicht beachtet, so konnte sie hier kaum den Blick von all dem Gebotenen abwenden. Palmen säumten die Straße und durch die dunklen Scheiben wirkten sie leicht bläulich. Mit großer Anstrengung hob sie den Arm an und legte die Finger auf den Fensterheber. Doch so sehr sie auch versuchte, ihn zu bedienen, es wollte nicht klappen, sie konnte nicht fest genug drücken. Jons Hand legte sich helfend auf ihre und kurz danach summte das Fenster herunter. Sofort fuhr ihr der Fahrtwind durch die braunen schulterlangen Haare und zerzauste sie. Noch nicht einmal so etwas Einfaches wie die Scheibe alleine herunterzubekommen, schaffte sie. Um Jon nicht zu zeigen, wie sehr sie das frustrierte, schloss sie die Augen und hielt ihr Gesicht in den Wind. Die Sonne erwärmte dieses, und langsam beruhigte sie sich wieder. Annabel spürte selbst, wie sich ein Lächeln auf ihre Miene stahl.
»Wir sind gleich da.« Jonathans Stimme klang genauso entspannt, wie sie sich fühlte.
Ihr Blick wanderte nach vorn und sie war froh, dass sie nun doch schon einige Körperteile bewegen konnte. Egal ob es noch schwerfällig war, aber sie merkte mittlerweile selbst, wie sehr sich die Übungen lohnten.
Sie fuhren durch einen Torbogen, auf dem ein großes Schild angebracht war. Auf diesem sah man einen Delfin, der mit einem lachenden Kind schwamm. Der Weg schlängelte sich zwischen Palmen zu einem blau gestrichenen Holzhaus hindurch. Der Wagen stoppte, Jonathan stieg aus und war in nicht mal fünf Minuten an ihrer Seite und hatte den Rollstuhl bereitgestellt.
Er legte sich ihren Arm um den Hals, hob sie aus dem Auto und setzte sie sacht in den fahrbaren Untersatz. Nachdem er alles gerichtet hatte, kam ihnen auch schon eine korpulente, über das ganze Gesicht strahlende Frau entgegen.
»Herzlich willkommen im Delfin-Therapiezentrum. Ich bin Jessica und ab sofort für euch, aber vor allen Dingen für dich, Schätzchen, zuständig. Und damit meine ich dich, Annabell, nicht das heiße Gerät hinter deinem Rollstuhl.« Jessy lachte laut, hielt ihr die Hand hin und griff fest zu, als Anna die Hand hochgehoben hatte. »Super, die Hand kannst du ja schon gut anheben. Den Rest, Sweetheart, bekommen wir mit dem Programm, das wir dir hier bieten, auch noch hin. Glaub mir, wenn du uns verlässt, kannst du wieder Walzer und Tango tanzen und alle Männer werden dir zu Füßen liegen.«
Annabell riss die Augen auf und ihr lag eine schnippische Bemerkung auf der Zunge. Was bildete sich die ... verdammte Schnepfe eigentlich ein? Diese Jessy schien sich in keiner Weise von ihrem bitterbösen Blick beeindrucken zu lassen und ehe sie es sich versah, hatte sie schon bissig geantwortet: »Normales laufen und ein einziger Mann würde mir reichen. Ich bin gespannt, ob du das hinbekommst.« Jessys Lachen wurde noch lauter, als auch noch ein Husten in ihrem Rücken erklang.
Jonathan
Es schien ihm, als wäre mit dem Wechsel von Örtlichkeit und der gestiegenen Temperatur ein Stück weit Leben in Annabell zurückgekehrt. Schon auf dem Weg aus dem Flugzeug heraus glänzten ihre Augen auf eine Art, die er noch nie an ihr gesehen hatte.
Die Fahrt verlief entspannt, und als sie im Zentrum angekommen waren, hatte Anna sogar zum ersten Mal eine echte Regung gezeigt gegenüber Jessy, der kräftigen, aber herzensguten Therapeutin, die den beiden in den folgenden Wochen zur Seite stehen würde. Sie hatte zwar gezickt, aber auch das war eine Emotion und alles, was zählte.
Es erleichterte Jonathan ungemein, dass seine Überlegung, sie aus dem Umfeld herauszuholen, welches sie so sehr verunsicherte, offenbar die Richtige gewesen war. Natürlich lag immer noch ein weiter und beschwerlicher Weg vor Annabell, aber er hatte zum ersten Mal, seitdem sie erwacht war das Gefühl, dass sie ein bisschen Lebensmut zurückgewann.
Vorerst war der Aufenthalt in diesem Center für 3 Monate geplant. Und wenn sie so gut auf die Therapie ansprach, wie er es sich erhoffte, dann bestünde sogar die Möglichkeit, um weitere 4 Wochen zu verlängern. Es war Michael nicht leichtgefallen, seine Schwester wieder gehen zu lassen, kaum, dass sie angekommen war, aber er hatte schließlich eingesehen, dass es für sie schlicht und ergreifend das Beste war. Susan hingegen hatte Jonathan sofort den Rücken gestärkt. Sie erkannte die Notwendigkeit hinter seiner Bitte, und unterstützte ihn, indem sie ihm bei der Suche nach geeigneten Therapien half.
Jessy schien eine Seele von Frau zu sein, er hatte sie gleich ins Herz geschlossen, als er mitbekam, wie sie mit Annabell umgegangen war. Genau das war es, was diese junge Frau jetzt am dringendsten brauchte. Jemanden, der vollkommen normal mit ihr umging, sie zum Agieren und Reagieren brachte, ihr zeigte, dass ihre Situation zwar schlimm, aber nicht hoffnungslos war.
Nachdem Jessy Anna also den ersten Stutenbiss überhaupt entrungen hatte, drängte sie ihn vom Rollstuhl weg und deutete mit einem saloppen »Hopp, Schätzelein, mach dich mal nützlich!«, auf die Koffer und Taschen. Amüsiert mit dem Kopf schüttelnd griff er sich das Gepäck und folgte den beiden Frauen, von denen zumindest eine wie ein Wasserfall schnatterte.
Der Weg, den Jessy nun einschlug, war asphaltiert und leichtgängig, wie er erfreut feststellte. Auch die restlichen Wege, die von einem Hauptweg aus in verschiedene Richtungen führten, waren auf dieselbe Weise angelegt. Man merkte sofort, dass hier alles darauf ausgelegt war, den Anwesenden den Aufenthalt so einfach wie möglich zu gestalten. Die Therapeutin plauderte munter auf Annabell ein, und als er zu den beiden aufschloss, stellte er fest, dass sie aufmerksam zuhörte und sich gleichzeitig neugierig umsah. Nach einem Fußweg von etwa 5 Minuten in gemütlichem Tempo blieb Jessy stehen.
»So, ihr zwei Hübschen. Das da ist eure Hütte für die kommenden Wochen. Ich hoffe, es gefällt euch! Und falls nicht, kann ich es auch nicht ändern«, erklärte sie fröhlich und nickte mit dem Kopf nach vorn.
Jonathan folgte ihrem Kopfnicken und ließ erstaunt die Taschen sinken, während Annabell ein überraschtes Keuchen entwich. Vor ihnen tat sich ein Häuschen auf, das den Namen Hütte eindeutig nicht verdient hatte. Es war ein hübscher, kleiner Bungalow, der fröhlich in Blau und Weiß gehalten war. Eine Rampe führte hinauf auf eine Veranda, auf der links eine Hollywoodschaukel und rechts ein Tisch mit Stühlen stand. Gleichzeitig bot sie jedoch genug Platz, um auch mit dem großen Rollstuhl bequem rangieren zu können.
»Frühstück gibt’s von 8 bis 10 Uhr, Mittag von 12 bis 14 Uhr, Abendessen von 16 bis 18 Uhr. Es handelt sich um Buffets, aus denen ihr euch das Essen selbst zusammenstellen könnt. Die Entscheidung, ob ihr im Speisesaal mit den anderen Patienten esst, oder euch etwas mit auf die Hütte nehmt, liegt ganz bei euch. Morgens und abends kommt jeweils für 30 Minuten eine weibliche Pflegerin, die Annabell bei der Körperhygiene behilflich ist«, erklärte Jessy und drückte Anna ein Heftchen und einen Briefumschlag in die Hand. »Hier ist ein Lageplan mit allen wichtigen Orten, Notfallrufnummern und so weiter. Im Umschlag befinden sich die Zugangsdaten fürs W-lan, der Code für den Safe, und sonstige Informationen, die ihr eventuell benötigen könntet. Der Schlüssel zum Haus liegt unter dem Blumentopf neben der Tür. Heute habt ihr noch kein Programm. Ich werde euch jetzt gleich allein lassen, damit ihr euch einrichten könnt. Morgen früh komme ich gegen 8 Uhr vorbei, dann stehen noch einige Untersuchungen an und der Therapieplan wird erstellt. Noch Fragen?«
Jonathan schüttelte den Kopf und sah zu Annabell. Sie hatte Jessy ganz eindeutig überhaupt nicht zugehört, denn ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen und sie sah wie gebannt zum Bungalow. »Ich glaube, fürs Erste sind die wesentlichen Punkte geklärt. Und für sie ...«, er deutete mit dem Kopf in Richtung Rollstuhl, »offensichtlich auch.« Er verharrte einen Moment und betrachtete seine Patientin schweigend. Nicht nur ihre Augen glänzten, auch ihre Wangen hatten eine zarte Röte bekommen. Ihr Blick machte nur allzu deutlich, dass ihr der Bungalow und alles, was sie sonst noch sehen konnte, gut gefiel. Ein sanftes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, ohne das es ihm selbst bewusst war.
Jessy schmunzelte. Dann tippte sie Annabell auf die Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, und beugte sich zu ihr herab, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Diese verharrte kurz überlegend, lief sodann knallrot an