Heil mich, wenn du kannst. Melanie Weber-Tilse
dass ich gesagt habe, dass du meinen nackten Körper nicht mehr sehen sollst. Bevor du aber noch einmal versuchst, den Ärmel über den Kopf zu bekommen und mir dabei auch noch die restlichen Haare ausreißt, dann schau verdammt noch mal hin.«
Er hielt inne und auch sie erstarrte. Was war gerade in sie gefahren? Noch nie hatte sie ihn angeblafft oder ihren Unmut geäußert … bis heute.
Sein Blick wandte sich ihr zu, dann grinste er. »Deshalb passt das nicht. Dachte schon, dein Kopf wäre angeschwollen.«
Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er das Shirt gerichtet und ihr übergezogen. Er legte eine dünne Decke über ihre Beine und zeigte dann auf den Knopf neben ihr. »Wenn du dort draufdrückst, dann bin ich innerhalb einer Sekunde bei dir. Gute Nacht, Annabell.«
»Gute Nacht«, murmelte sie, dann hatte er das Licht gelöscht und war verschwunden.
Lange blickte sie in die Dunkelheit, die Gedanken rasten und es dauerte einige Zeit, bis sie eingeschlafen war.
***
Am nächsten Morgen war sie früh wach. Das ungewohnte Vogelkonzert und die Sonne hatten sie aus einem ruhigen Schlaf geholt und als sie merkte, dass Jonathan wohl noch nicht auf war, genoss sie einfach eine Weile die Ruhe. Einst war diese schlimm für sie gewesen, doch hier hatte es etwas sehr Beruhigendes … fast schon Friedliches an sich.
Jon hatte keine Fragen gestellt, als er sie wach vorgefunden hatte. Er hatte die Pflegerin mitgebracht, die sich ab jetzt um ihre Morgen- und Abendtoilette kümmern würde, ansonsten lief alles ab wie am Tag zuvor. Er machte wirklich ernst, dass sie ab sofort mehr alleine machen sollte und auch musste.
Als sie den Weg zum Hauptgebäude nahmen, sog sie tief die Luft ein, genoss das wundervolle Wetter und die Sonne auf ihrer Haut. Auch wenn es sie Überwindung gekostet hatte, so fühlte sie sich jetzt in dem Kleid wirklich wohl. Sie vermied es, ihre Beine, die viel zu dünn waren, anzuschauen.
»Guten Morgen, guten Morgen«, empfing Jessy sie vergnügt. »Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Nachtruhe. Da keine Beschwerden vorliegen, wart ihr zwei Hübschen auch nicht zu laut.«
Sie ignorierte, dass Annabells Kopf wieder die Farbe einer Tomate angenommen hatte, und dirigierte sie direkt zu einem Tisch, an dem zwei junge Männer im Rollstuhl saßen.
»Das sind Steve und Phil. Beide stattliche Männer, wenn sie denn endlich mal ihren Hintern aus den Rollstühlen bekommen würden.«
»Wenn du so weitermachst, Jess, dann springe ich wirklich bald da raus und flüchte vor dir.« Der Phil genannte grinste sie allerdings belustigt an und wandte sich dann an Annabell. »Ich bin Phil. Eigentlich Philipp Drexler. Bis mich die blöde Multiple Sklerose überfiel, war ich ein erfolgreicher Geschäftsmann, und Frauen wie Jess hab ich zum Frühstück verspeist.«
Diese gab Phil prustend einen Klaps auf die Schulter und die beiden lachten ausgelassen.
»Und wer bist du, du bezauberndes Wesen?«
Phil lächelte jetzt Annabell an und wieder nahm ihre Gesichtsfarbe eine dunklere Nuance an.
»Das ist …«, fing Jonathan hinter ihr an, doch sie selbst unterbrach ihn patzig. »Anna, eigentlich Annabell Thompson. Bis mich ein Junkie ins Koma geprügelt hat, soll ich eine lebenslustige Frau gewesen sein, die machte, was ihr gefiel. So wird es mir immer erzählt. Da mir aber nicht nur die Muskeln abhandengekommen sind, sondern auch das Gedächtnis, kann ich nicht beurteilen, wie ich wirklich war.«
Das war der längste Satz, den sie in den letzten Wochen gesprochen hatte. Nur Jonathan wusste das, doch dieser stand immer noch hinter ihrem Rollstuhl, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Obwohl ihre Stimme leichte Verbitterung enthalten hatte, ließen sich Jessy und schon gar nicht Philipp davon beeindrucken. Ganz im Gegenteil, dessen Augen leuchteten regelrecht auf. »Wow, wenn du früher nur halb so viel Feuer hattest wie jetzt … verdammt Jessy, ich muss aus dem Rollstuhl raus. Wobei …«, sein Blick wanderte an Annabell vorbei, »dein Bodyguard mich am liebsten gerade in diesem ganz klein machen würde, wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deute.«
Besagter räusperte sich in ihrem Rücken, trat neben sie und lächelte ein wenig verkrampft. »Ich besorge uns etwas zum Frühstück.«
»Super, nun hast du ihn eifersüchtig gemacht«, schaltete sich Steve ein, der bis dahin komplett still gewesen war. »Steve Fox. Zusammenstoß mit einem Auto, wobei dieses gewonnen hat. Meine sarkastische Seite habe ich allerdings erst jetzt entdeckt, weil ich nicht vor Jessy fliehen kann und sie mir Phil aufgedrückt hat. Unter uns gesagt, es ist hier ein Folterlager!«
Jessy baute sich neben Steve auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das werden wir deinem Konto gutschreiben und nachher, mein Freund, wirst du nicht nur eine, sondern drei Runden mit den Delfinen schwimmen.«
Verschmitzt zwinkerte sie Annabell zu. »Ich lasse euch Vier alleine, damit ihr euch besser kennenlernen könnt. Danach stelle ich dich dem Doc vor und wir machen uns ein Bild von deiner Verfassung.«
Jess rauschte zwischen den Tischen hindurch und blieb hier und da kurz stehen, redete und man hörte noch lange ihr Lachen, bis sie den Speisesaal verlassen hatte.
»Bevor dein Aufpasser wiederkommt«, flüsterte ihr Phil verschwörerisch zu. »Seid du und er … nun ja, seid ihr ein Paar?«
Anna sah ihn irritiert an. »Er ist mein Pfleger. Somit weder Bodyguard noch mein Freund.«
Warum redete sie so viel? Bevor Philipp weiter fragen konnte, trat Jon mit zwei Tabletts in der Hand zu ihnen, von denen er eins Annabell hinstellte und sich dann neben sie setzte.
Saft, Kaffee, Früchte und eine Brötchenscheibe mit Schinken belegt, befanden sich auf diesem.
»Das schaffe ich nicht, Jon«, flüsterte sie ihm zu. Sie hasste es, wenn man Essen wegwarf. Sie hasste es?
Zwei kleine Kinder saßen am Tisch und als das Mädchen aufstehen wollte, erklang Emmas Stimme. »Es ist nicht mehr viel, was auf deinem Teller liegt. Aber das isst du jetzt auf. Andere Kinder haben nichts und ich möchte, dass ihr lernt, dass man sich nur so viel nimmt, wie man auch schafft!« Die kleine Annabell nickte und stopfte sich den letzten Rest von ihren Brötchen in den Mund ...
»Siehst du, das hast du doch geschafft«, riss Jonathans Stimme sie aus ihren Gedanken.
Sie legte ihre Hand auf seine und er verstummte sofort. »Ich hatte eine Erinnerung«, stammelte sie. »Wir waren Kinder und Emma schimpfte, weil ich mir zu viel auf den Teller geladen hatte …«
Mit tränenverhangenem Blick sah sie ihn an und er drückte leicht ihre Hand. »Das ist gut, sogar sehr gut, Anna!«
»Wow, einen Tag hier und schon prasseln die Erinnerungen auf dich ein, Bella«, freute sich Phil.
»Ich hasse den Namen Bella«, erwiderte sie entnervt und die Stille am Tisch, ließ wie verwundert alle drei nacheinander anschauen.
Jonathan grinste und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Oh ja, die Entscheidung hierherzukommen war die Allerbeste. Wir sollten jetzt aber los, damit wir nicht zu spät zu deinen Untersuchungen kommen.«
Er räumte alles zusammen und stand auf, um ihr Geschirr wegzubringen.
»Viel Spaß, Be …. Anna, bei den Anwendungen. Und wenn du die Schnauze voll von deinem Bodyguard hast, du weißt, wo du mich findest.« Phil zwinkerte und zog übertrieben die Augenbraue hoch, sodass sie nicht anders konnte und lachte.
»Sollte Phil dich zu sehr nerven, sag mir Bescheid«, mischte sich Steve mit seiner ruhigen Stimme ein. »Ich bin mir sicher, wir können es wie einen Unfall aussehen lassen.«
Schon am ersten Tag und nur kurzer Zeit am Tisch mit den beiden Männern, musste sie immer wieder Schmunzeln und Erinnerungen, die tief vergraben waren, suchten ihren Weg nach draußen.
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