Deutsches Märchenbuch + Neues Deutsches Märchenbuch. Ludwig Bechstein
klopfte an. Die Alte konnte nicht vom Bette aufstehen,
und nachsehen, wer da sei, und rief: »Wer ist
draußen?«
»Das Rotkäppchen!« rief der Wolf mit verstellter
Stimme. »Die Mutter schickt der guten Großmutter
Wein und auch Kuchen! Wir haben gebacken!«
»Greife unten durch das Loch in der Türe, da liegt
der Schlüssel!« rief die Alte, und der Wolf tat also,
öffnete die Türe, trat in das Häuschen, in das Stübchen,
und verschlang die Großmutter ohne weiteres –
zog ihre Kleider an, legte sich in ihr Bett, und zog die
Decke über sich her, und die Bettvorhänge zu. Nach
einer Weile kam das Rotkäppchen; es war sehr verwundert,
alles so offen zu finden, da doch sonst die
Großmutter sich selbst gern unter Schloß und Riegel
hielt, und wurd ihm schier bänglich um das junge
Herzchen.
Wie das Rotkäppchen nun an das Bett trat, da lag
die alte Großmutter, hatte eine große Schlafhaube auf,
und war nur wenig von ihr zu sehen, und das wenige
sah gar schrecklich aus. »Ach Großmutter, was hast
du so große Ohren?« rief das Rotkäppchen. – »Daß
ich dich damit gut hören kann!« war die Antwort. –
»Ach Großmutter! Was hast du für große Augen!« –
»Daß ich dich damit gut sehen kann!« – »Ei Großmutter,
was hast du für haarige große Hände!« –
»Daß ich dich damit gut fassen und halten kann!« –
»Ach Großmutter, was hast du für ein so großes Maul
und so lange Zähne!« – »Daß ich dich damit gut fressen
kann!« Und damit fuhr der ganze Wolf grimmig
aus dem Bette heraus, und fraß das arme Rotkäppchen.
Weg war's.
Jetzt war der Wolf sehr satt, und es gefiel ihm sehr
im Stübchen der Alten und in dem weichen Bett, und
legte sich wieder hin und schlief ein und schnarchte
daß es klang, als schnarre ein Räderwerk in einer
Mühle.
Zufällig kam ein Jäger vorbei, der hörte das seltsame
Geräusch, und dachte: Ei, ei, die arme alte Frau
da drinnen hat einen bösen Schnarcher am Leib, sie
röchelt wohl gar und liegt im Sterben! Du mußt hinein,
und nachsehen, was mit ihr ist. – Gedacht, getan;
der Jäger ging in das Häuschen, da fand er den Herrn
Isegrimm im Bette der Alten liegen, und die Alte war
nirgends zu erblicken. »Bist du da?« sprach der Jäger,
und riß die Kugelbüchse von der Schulter. »Komm du
her, du bist mir oft genug entlaufen!« – Schon legte er
an – da fiel ihm ein: halt – die Alte ist nicht da, am
Ende hat der Unhold sie mit Haut und Haar verschlungen,
war ohnedies nur ein kleines dürres Weiblein.
Und da schoß der Jäger nicht, sondern er zog seinen
scharfen Hirschfänger und schlitzte ganz sanft
dem fest schlafenden Wolf den Bauch auf, da guckte
ein rotes Käppchen heraus, und unter dem Käppchen
war ein Köpfchen, und da kam das niedliche allerliebste
Rotkäppchen heraus, und sagte: »Guten Morgen!
Ach was war das für ein dunkles Kämmerchen da
drinnen!« – Und hinter dem Rotkäppchen zappelte die
alte Großmutter, die war auch noch lebendig, vielen
Platz hatten sie aber nicht gehabt im Wolfsbauch. –
Der Wolf schlief noch immer steinfest, und da nahmen
sie Steine, gerade wie die alte Geiß im Märchen
von den sieben Geißlein, füllten sie den Wolf in den
Bauch und nähten den Ranzen zu, hernach versteckten
sie sich, und der Jäger trat hinter einen Baum, zu
sehen, was der Wolf endlich anfangen werde. Jetzt
wachte der Wolf auf, machte sich aus dem Bett heraus,
aus dem Stübchen, aus dem Häuschen, und humpelte
zum Brunnen, denn er hatte großen Durst. Unterwegs
sagte er: »Ich weiß gar nicht, ich weiß gar
nicht, in meinem Bauch wackelt's hin und her, hin
und her, wie Wackelstein – sollte das die Großmutter
und Rotkäppchen sein?« – Und wie er an den Brunnen
kam und trinken wollte, da zogen ihn die Steine
und er bekam das Übergewicht und fiel hinein und ertrank.
So sparte der Jäger seine Kugel; er zog den
Wolf aus dem Brunnen und zog ihm den Pelz ab, und
alle drei, der Jäger, die Großmutter und das Rotkäppchen,
tranken den Wein, und aßen den Kuchen, und
waren seelenvergnügt, und die Großmutter wurde
wieder frisch und gesund, und Rotkäppchen ging mit
ihrem leeren Körbchen nach Hause, und dachte: du
willst niemals wieder vom Wege ab und in den Wald
gehen, wenn es dir die Mutter verboten hat.
Der alte Zauberer und seine Kinder
Es lebte einmal ein böser Zauberer, der hatte vorlängst
zwei zarte Kinder geraubt, einen Knaben und
ein Mägdlein, mit denen er in einer Höhle ganz einsam
und einsiedlerisch hauste. Diese Kinder hatte er,
Gott sei's geklagt, dem Bösen zugeschworen, und
seine schlimme Kunst übte er aus einem Zauberbuche,
das er als seinen besten Schatz verwahrte.
Wenn es nun aber geschah, daß der alte Zauberer
sich aus seiner Höhle entfernte, und die Kinder allein
in derselben zurückblieben, so las der Knabe, welcher
den Ort erspäht hatte, wohin der Alte das Zauberbuch
verbarg, in dem Buche, und lernte daraus gar manchen
Spruch und manche Formel der Schwarzkunst,
und lernte selbst ganz trefflich zaubern. Weil nun der
Alte die Kinder nur selten aus der Höhle ließ, und sie
gefangen halten wollte bis zu dem Tage, wo sie dem
Bösen zum Opfer fallen sollten, so sehnten sie sich
um so mehr von dannen, berieten miteinander, wie sie
heimlich entfliehen wollten, und eines Tages, als der
Zauberer die Höhle sehr zeitig verlassen hatte, sprach