Deutsches Märchenbuch + Neues Deutsches Märchenbuch. Ludwig Bechstein
»Jetzt ist es Zeit, Schwesterlein!
Der böse Mann, der uns so hart gefangen
hält, ist fort, so wollen wir uns jetzt aufmachen und
von dannen gehen, soweit uns unsere Füße tragen!«
Dies taten die Kinder, gingen fort und wanderten den
ganzen Tag.
Als es nun gegen den Nachmittag kam, war der
Zauberer nach Hause zurückgekehrt und hatte sogleich
die Kinder vermißt. Alsobald schlug er sein
Zauberbuch auf und las darin, nach welcher Gegend
die Kinder gegangen waren, da hatte er sie wirklich
fast eingeholt; die Kinder vernahmen schon seine zornig
brüllende Stimme, und die Schwester war voller
Angst und Entsetzen, und rief: »Bruder, Bruder! Nun
sind wir verloren; der böse Mann ist schon ganz
nahe!« Da wandte der Knabe seine Zauberkunst an,
die er gelernt hatte aus dem Buche; er sprach einen
Spruch, und alsbald wurde seine Schwester zu einem
Fisch, und er selbst wurde ein großer Teich, in welchem
das Fischlein munter herumschwamm.
Wie der Alte an den Teich kam, merkte er wohl,
daß er betrogen war, brummte ärgerlich: »Wartet nur,
wartet nur, euch fange ich doch!« und lief spornstreichs
nach seiner Höhle zurück, Netze zu holen,
und den Fisch darin zu fangen. Wie er aber von hinnen
war, wurden aus dem Teich und Fisch wieder
Bruder und Schwester, die bargen sich gut und schliefen
aus, und am andern Morgen wanderten sie weiter,
und wanderten wieder einen ganzen Tag.
Als der böse Zauberer mit seinen Netzen an die
Stelle kam, die er sich wohl gemerkt hatte, war kein
Teich mehr zu sehen, sondern es lag eine grüne Wiese
da, in der es wohl Frösche, aber keine Fische zu fangen
gab; da wurde er noch zorniger wie zuvor, warf
seine Netze hin, und verfolgte weiter die Spur der
Kinder, die ihm nicht entging, denn er trug eine Zaubergerte
in der Hand, welche ihm den richtigen Weg
zeigte.
Und als es Abend war, hatte er die wandernden
Kinder beinahe wieder eingeholt; sie hörten ihn schon
schnauben und brüllen, und die Schwester rief wieder:
»Bruder, lieber Bruder! Jetzt sind wir verloren, der
böse Feind ist dicht hinter uns!«
Da sprach der Knabe wiederum einen Zauberspruch,
den er aus dem Buche gelernt, und da ward
aus ihm eine Kapelle am Weg, und aus dem Mägdlein
ein schönes Altarbild in der Kapelle.
Wie nun der Zauberer an die Kapelle kam, merkte
er wohl, daß er abermals geäfft war, und lief fürchterlich
brüllend um dieselbe herum; er durfte sie aber
nicht betreten, weil das immer im Pakt der Zauberer
mit dem Bösen stand, daß sie niemals eine Kirche
oder eine Kapelle betreten durften.
»Darf ich dich auch nicht betreten, so will ich dich
doch mit Feuer anstoßen, und auch zu Asche brennen!
« schrie der Zauberer und rannte fort, sich aus
seiner Höhle Feuer zu holen.
Während er nun fast die ganze Nacht hindurch
rannte, wurden aus der Kapelle und dem schönen Altarbild
wieder Bruder und Schwester; sie bargen sich
und schliefen, und am dritten Morgen wanderten sie
weiter und wanderten den ganzen Tag, während der
Zauberer, der einen weiten Weg hatte, ihnen aufs neue
nachsetzte. Als er mit seinem Feuer dahin kam, wo
die Kapelle gestanden, stieß er mit der Nase an einen
großen Steinfelsen, der sich nicht mit Feuer anstoßen
und zu Asche verbrennen ließ, und dann rannte er mit
wütenden Sprüngen auf der Spur der Kinder weiter
fort.
Gegen Abend war er ihnen nun ganz nahe, und zum
drittenmal zagte die Schwester und gab sich verloren;
aber der Knabe sprach wieder einen Zauberspruch,
den er aus dem Buche gelernt, da ward er eine harte
Tenne, darauf die Leute dreschen, und sein Schwesterlein
war in ein Körnlein verwandelt, das wie verloren
auf der Tenne lag.
Als der böse Zauberer herankam, sah er wohl, daß
er zum drittenmal geäfft war, besann sich aber diesmal
nicht lange, lief auch nicht erst wieder nach
Hause, sondern sprach auch einen Spruch, den er aus
dem Zauberbuche gelernt hatte; da ward er in einen
schwarzen Hahn verwandelt, der schnell auf das Gerstenkorn
zulief, um es aufzupicken; aber der Knabe
sprach noch einmal einen Zauberspruch, den er aus
dem Buche gelernt, da wurde er schnell ein Fuchs,
packte den schwarzen Hahn, ehe er noch das Gerstenkorn
aufgepickt hatte, und biß ihm den Kopf ab, da
hatte der Zauberer, wie dies Märlein, gleich ein Ende.
Kapitel 2
Die Goldmaria und die Pechmaria
Es war einmal eine Witwe, die hatte zwei Töchter,
eine rechte Tochter und eine Stieftochter; beide hießen
Maria. Die rechte Tochter war nicht gut und fromm,
dagegen war die Stieftochter ein bescheidenes, sittiges
Mädchen, das aber gar viele Kränkungen und Zurücksetzungen
von Mutter und Schwester erdulden mußte.
Doch sie war stets freundlich, tat die Küchenarbeiten
unverdrossen, und weinte nur manchmal heimlich in
ihrem Schlafkämmerlein, wenn sie von Mutter und
Schwester so viel Unbilliges zu leiden hatte. Aber
bald war sie dann allemal wieder heiter und frischen
Mutes, und sprach zu sich selbst: »Sei ruhig, der liebe
Gott wird dir schon helfen.« Dann tat sie fleißig ihre
Arbeit, und machte alles nett und sauber. Ihrer Mutter
arbeitete sie immer nicht genug; eines Tages sagte
diese sogar: »Maria, ich kann dich nicht länger zu
Hause behalten, du arbeitest wenig und issest viel,
und deine Mutter hat dir kein