Roulett. Peter Schmidt
nicht die feine Art, jemandem einen so diskriminierenden Spitznamen zu verpassen."
"Aber Ihr Vorname ist doch Leo, oder?"
"Ich ... nein ..."
"Sie sollten Ihre Nase begradigen lassen, Leo. Frauen mögen keine Hakennasen."
"Ich glaube, das geht Sie einen feuchten Dreck an."
"Aber Leo. Sind Sie nun ein Gentleman oder nicht? Nie die Kontenance verlieren. Immer über den Dingen stehen. Wer angreift, offenbart nur, dass er verletzt oder getroffen ist. Den Gegner mit einem Lächeln entwaffnen – ungefähr so."
Er entblößte seine strahlend weißen Zähne, ein Gebiss wie aus dem Schaukasten der Zahntechniker.
Mit diesem Ratschlag fing alles an. Ernie wurde zum Arzt, Beichtvater, Lehrer und Freund für mich; er rutschte wie selbstverständlich in seine Rolle als Lehrmeister. Vielleicht, weil er schon als Guru oder Medizinmann auf die Welt gekommen war. Oder weil auf seinen Genen der Fluch lastete, die menschliche Evolution voranzutreiben; falls dieses Wort bei seinem aufs Höchste verfeinerten Gaunertums überhaupt am Platze ist.
Und das Verblüffendste daran: Ernie war in jeder Rolle gleich vollkommen, er füllte sie immer perfekt aus.
Er wurde, ohne dass wir deswegen irgendeinen Vertrag geschlossen oder unsere Absicht auch nur per Handschlag besiegelt hätten, zum größten Lehrmeister für mich, den die Weltgeschichte je gesehen hat, Buddha oder Jesus Christus eingeschlossen. Und glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.
"Lassen Sie mal Ihre Krabbeltierchen laufen", meinte er und zeigte in den Speisesaal.
Ich sagte mir, dass ich den Teufel tun würde. Aber als ich an meinen Platz zurückgekehrt war, sah ich diesen verhinderten Pinkertondetektiv in meiner Umhängetasche wühlen.
Es war eine brasilianische Büffelledertasche mit zwei Geheimfächern, die ein unachtsamer Spaziergänger auf den Champs-Elysées verloren hatte, und er bemühte sich vergeblich, an den Inhalt der Geheimfächer zu gelangen, obwohl seine Fingerspitzen ihn schon durch das Leder ertastet hatten.
Die beiden Wülste seines grauen Backenbarts standen ab wie Hundeschwänze, als wenn sie gleich vor Freude wedeln würden. Ein Zeichen dafür, dass sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete, falls die Gehirne dieser Lohn-Kretins von Pro-Pro überhaupt in eine schnellere Gangart schalten können. Dann richtet er sich auf und sah mich vor sich stehen. Sein Blick wanderte ratlos zurück auf meine polierten Schuhspitzen.
"Sie sind ein mieser kleiner Gauner, Leo", sagte er verlegen. "Die Agentur hat Sie durch ganz Europa gejagt, und eines Tages werden wir Sie auch zur Strecke bringen. Das ist nur noch eine Frage der Zeit."
"Was werfen Sie mir denn vor?", fragte ich mit arglosem Augenaufschlag. "Dass ich Ihre Schwiegermutter vergewaltigt habe?"
"Sie ..." Er streckte seine Hand nach meinem Hals aus, als wolle er mit den Fingerspitzen meinen Adamsapfel durchbohren, eine feiste, feuchte Hand voller kleiner Muttermale und am Handgelenk so dicht behaart wie eine Affenpfote. Ihre Haut war heller als die eines Albinos, ganz im Unterschied zu seinem Gesicht, das eine eher dunkelbraune Färbung hatte. Auf dem Tisch neben seinem Teller lagen weiße Handschuhe, vielleicht weil er an einer ansteckenden Hautkrankheit litt.
Dann hielt er plötzlich meine Brille in der Hand. Es war ihm gelungen, den dünnen Drahtbügel zu erwischen, obwohl ich blitzschnell meinen Kopf weggedreht hatte. Er wusste, dass ich ohne Augengläser hilflos war.
"Na, wo haben wir denn unsere kleinen Fensterchen zur Welt?“, fragte er. Seine Stimme bekam einen drohenden Unterton, als ich ein, zwei unsichere Schritte nach vorn machte. "Bleiben Sie, wo Sie sind, Leo!" Etwas Dunkles, wahrscheinlich seine Faust, fuchtelte vor meinen Augen herum. "Und nun her mit dem Pass."
"Wozu?“, fragte ich.
"Um mal einen Blick hineinzuwerfen. Ich glaube, dass Sie hier unter falschem Namen abgestiegen sind. In der Anmeldung steht Jakob Siedler, aber Ihr richtiger Name dürfte Leo Wunsch sein."
"Ist das der Kerl, den Sie suchen?"
"In einschlägigen Kreisen auch Kakerlaken-Leo genannt."
"Und wie ist der arme Bursche zu diesem schäbigen Spitznamen gekommen?"
"Das wissen Sie doch selbst am besten, Leo, verdammt noch mal – weil Sie wieder mit Ihrem Wanderzirkus auf Tournee sind."
"Sie meinen Kakerlaken, wenn ich das richtig verstehe? Ordinäre braune Küchenschaben? Hab noch nie gehört, dass es jemandem gelungen ist, Ungeziefer zu dressieren."
"Ihnen, Leo", erklärte er im Brustton der Überzeugung. "Sie haben das Kunststück fertiggebracht, die Viecher nach Ihrer Pfeife tanzen zu lassen." Er gab ein Geräusch von sich, das seinen abgrundtiefen Ekel ausdrücken sollte; aber es klang eher, als wenn seine Bronchien zu pfeifen versuchten. "Also geben Sie schon her, das verdammte Ding." Irgend etwas stieß mir unsanft gegen die Brust. Seine Faust, nahm ich an. Ich sah wirklich nicht die Hand vor Augen. Meine Sehnerven brauchten immer erst ein paar Minuten, um ohne Gläser zurechtzukommen.
"Mein Pass liegt oben auf dem Zimmer."
Er legte mir seine schwere behaarte Affenhand auf die Schulter. "Dann gehen Sie voraus ... da entlang. Und keine Fisimatenten, verstanden?"
"Was Sie hier mit mir treiben, ist glatte Freiheitsberaubung."
"Gehen, hab ich gesagt."
"Sie müssen mich führen. Ich kann nichts sehen. Oder geben Sie mir meine Brille wieder."
"Das haben Sie sich so gedacht, was?" Ich bekam einen Stoß in den Rücken.
"Immer sachte ..."
"Mich legen Sie nicht herein, Wunsch." Er lachte verhalten. "Sie haben die halbe Agentur an der Nase herumgeführt. Bei mir sind Sie an den Falschen geraten."
Ich wusste nicht, ob Ernie uns zusah, wie er mich nach oben brachte. Ich hätte nicht mal sagen können, ob er wieder an seinem Tisch saß. Ich stolperte die dunkle Treppe zum ersten Stock hinauf.
Aus der Küche hörte ich Mama singen – vielleicht, weil sie eine neue Einfärbmethode für ihre Soßen von vorgestern gefunden hatte; sie sang ihre Arien immer eine Tonlage zu hoch –, und als wir am Treppenabsatz waren und ein wenig kalte Aprilsonne auf mein Gesicht fiel, hatten sich meine Augen so weit an den Zustand gewöhnt, dass ich wieder Schatten und Umrisse wahrnahm. Irgendwo da draußen im Innenhof saß Madonna und machte ihre Schulaufgaben.
Ich nannte sie Madonna, weil mich ihr glattes junges Mädchengesicht an die Marienbilder in der Kirche erinnerte. Ihr wirklicher Name war Francesca. Sie saß immer dort um diese Zeit, den kurzen schwarzen Rock so weit hochgeschoben, dass man ihre formvollendeten kakaobraunen Schenkel sah. Ein Anblick, der die Männer wahnsinnig machte.
Diesmal sah ich nicht mehr als die unbelaubte Krone des Baumes, ein schwarzes Geflimmer.
"Was ist los, Leo? Sie zittern ja am ganzen Körper. Weiter, weiter ..."
Vor Leidenschaft, dachte ich. "Sitzt Francesca unten im Hof?"
"Ja, sie macht ihre Schulaufgaben. Sie hat ein halbes Dutzend blauer Hefte um sich ausgebreitet."
"Bitte geben Sie mir meine Brille." Ich streckte meine Hand in die Richtung aus, wo ich seinen verschwommenen Schatten vermutete.
"Wozu?"
"Ich möchte sie sehen."
"Francesca? Sie sind ein Witzbold."
"Bitte, es ist wichtig."
"Tatsächlich? Um so besser. Ihre Schenkel sehen heute wieder mal alabasterweißer aus denn je", schwärmte er. "Ein unglaublicher Anblick. Aber Sie sollen schmoren, bis Sie in der Hölle sind, Leo. Ich werde Ihre Brille zertreten, dann ist Francesca aus Ihrem Leben verschwunden. Jedenfalls, bis Sie in diesem verlassenen Kaff einen Optiker gefunden haben."
"Unsinn, ihre Schenkel sind kakaobraun."
"So, glauben Sie? Hm,