Roulett. Peter Schmidt

Roulett - Peter Schmidt


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gut, mein Pass ist unter der Wäsche im Schrank. Zweites Fach von oben. Da finden Sie auch eine Liste aller falschen Namen, die ich in den letzten Monaten benutzt habe."

      "Na also, warum nicht gleich so? Geben Sie mir den Zimmerschlüssel."

      "Passen Sie auf meine Sammlung auf. Es sind ein paar unersetzliche Unikate darunter."

      "Meine Sammlung ... ich werde dafür sorgen, dass alles an die rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wird. Ihre Karriere als Dieb ist beendet."

      Sie fängt jetzt erst an, dachte ich. Ich bin dreiundzwanzig und nicht mal in dem Alter, wo man die entscheidenden Weichen stellt. Das Alter, in dem die meisten Menschen den Grundstein für ihr späteres Leben legen, ist achtundzwanzig. Dann hat man genug Erfahrung, um die Tragweite seiner Entscheidungen abzuschätzen. (Ich konnte nicht ahnen, dass Ernie mir diese Last fünf Jahre vor der Zeit abnehmen würde.)

      2

      "Aufschließen, Leo. Aber Vorsicht, ich bin hinter Ihnen. Sobald Sie eine falsche Bewegung machen ..."

      "Tut mir leid, ich kann nicht die Hand vor Augen erkennen."

      Das war gelogen, denn inzwischen konnte ich wieder einzelne Gegenstände unterscheiden. Siebzehn war meine Zimmertür, ein schiefhängendes, rotlackiertes Holzschild, unter dessen Ziffern jemand, vielleicht ein unzufriedener Gast, mit schwarzem Filzstift WC gemalt hatte.

      Und irgendwo hinter uns im Hof saß Francesca, die Unnahbare, die Kindfrau, in französische Grammatik versunken oder auf einem fernen Eiland mit Kokospalmen verweilend, das ihr lüsterner Geographielehrer für sie beide als heimliches Refugium ausgewählt hatte.

      Oder ließ sich das Fach einfach abwählen? War es ein tumber Mathematiklehrer, dem weiße Haarbüschel aus den Ohren sprossen?

      Versuchte er sie in seine Gartenlaube am Stadtrand zu entführen? Wovon träumte sie gerade? Wie viel Millionen Kindfrauen hat es schon gegeben, die uns alten Kerlen den Kopf verdrehen!

      Es ist, als bliebe die Nadel immer wieder in derselben Schallplattenrille hängen ...

      "Geben Sie her." Er klapperte ärgerlich mit dem Schlüssel, und als er seinen Kopf durch den Türspalt steckte, bekam er prompt einen Hustenanfall wegen der abgestandenen Luft. Mamas Zimmer waren seit einem halben Jahrhundert weder gelüftet noch tapeziert worden. Sie hätten leicht in einem Museum für Wohnen um die Jahrhundertwende stehen können.

      Die Fensterrahmen waren verschraubt, um Einbrechern und Zechprellern das Handwerk zu legen. Wenn man auf dem Bett lag, konnte man im einfallenden Sonnenlicht den Staub sehen. Er war wie eine miniaturisierte Galaxis, die immer wieder von unerklärlichen Kräften hoch- und durcheinandergewirbelt wurde (wie das echte Universum) und zu Boden sank, unaufhörlich, Millionen und aber Millionen Jahre lang.

      So eintönig und monoton stelle ich mir das Leben des Spießbürgers vor. Es scheint völlig belanglos zu sein, ob er noch einmal wiedergeboren wird oder für immer in der feuchten Friedhofserde verschwindet.

      "Leo, schlafen Sie nicht ein."

      Langsam begann mir der schrille Klang seiner Stimme auf die Nerven zu gehen.

      Ein Knarren war zu hören, als er die Schranktür öffnete – und weil sich das federnde Klavierband mitsamt den Schrauben von der Seitenwand gelöst hatte, schnellte es plötzlich vor und verfehlte nur knapp seinen Kopf. Er schnaufte ärgerlich.

      "Ist das wieder einer Ihrer Tricks, Leo?"

      Dann nahm er die gerahmte Korkplatte aus dem Fach, auf der meine Käfersammlung aufgespießt war. (Für den Laien gebrauche ich manchmal das Wort Käfer, obwohl Schaben mit Käfern eigentlich nicht näher verwandt sind.)

      Er hielt sie schräg gegen das Licht, weil sich die Deckenlampe im Abdeckglas spiegelte …

      Die meisten waren seltene Exemplare, zusammengetragen aus fünf Kontinenten, darunter ein paar prächtige Exemplare der "Amerikanischen Schabe", Periplaneta americana, und zwei mutierte "Orientalische Schaben", Blatta orientalis, bei uns auch Küchenschabe, Kakerlak genannt, die ihre gewöhnliche Größe von neunzehn bis fünfundzwanzig Millimetern aus unerklärlichen Gründen verdoppelt hatten.

      In ihren Panzern steckten schwarze Nadeln. Als ich sie einmal in Nürnberg einem Experten zeigte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Seiner Meinung nach konnte ihr Riesenwuchs nur von der radioaktiven Strahlung aus Tschernobyl herrühren.

      "Pfui Teufel, was ist das denn, Leo?"

      "Sehen Sie einfach weg, wenn Sie's nicht aushalten können. Mein Pass liegt unter der Wäsche."

      Er stellte die Platte so beiseite, dass ihre Sperrholzseite nach oben zeigte.

      Als er sich vorbeugte, ließ ich meine Sammlung auf seinen spärlich behaarten Schädel niedersausen. Das Glas zersplitterte, und ein paar der hellbraunen Käfer fielen auf den Boden. Er sagte "Oh ..." und kippte zur Seite.

      Ich suchte nach meiner Brille – sie lag unversehrt unter seinem Körper – und richtete mich auf, weil ich eine kaum merkliche Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte ...

      Gegenüber im Fenster des Treppenaufgangs stand Ernie und sah uns zu. Er hatte die Arme verschränkt und beobachtete uns wie ein erfahrener Wetter auf der Tribüne der Galopprennbahn, der sehen wollte, ob er aufs richtige Pferd gesetzt hatte. Ein anerkennendes Grinsen zog über sein Gesicht.

      Ich grinste verhalten zurück. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Er brauchte nur an die Rezeption zu gehen und die Polizei zu verständigen. Sie würden mich am Bahnhof oder an der Landstraße erwischen. Das Hinterland mit seinen Bergen, auf denen karge schwarze Rebstöcke und einzelne verfallene Bauernhäuser aus Felsstein standen, war um diese Jahreszeit feucht und unwegsam. Nach Monaco konnte ich nicht gehen, weil ich schon einmal wegen "Landstreicherei" ausgewiesen worden war (Landstreicher nennen sie dort jemanden, der momentan zu wenig Geld in der Tasche hat, um ihre horrenden Hotelpreise zu bezahlen).

      Die Prozedur ist ungefähr folgende: Man wird gegen Mitternacht am Hafen von zwei Zivilen eingesammelt, die aussehen wie Mitglieder der Mafia, dann auf der Polizeiwache eine Stunde lang verhört – Dolmetscher gibt es nicht – und später in einen Polizeiwagen gesteckt und an die französische Grenze nach Menton verfrachtet.

      Das Ganze hat Ähnlichkeit mit der Beförderung von Sondermüll.

      Gnade dir Gott, falls du es wagst, dich zurückzuschleichen. Sie haben zwar keinen Grenzposten, aber ein Heer von wachsamen Nachtwächtern in Zivil, die selbst noch die Bewegung einer sanft schwirrenden Libelle registrieren würden.

      Meine Leiche gab unverständliche Laute von sich – Grunzen oder schwache Hilferufe – und griff nach meinem Fußgelenk. Ich stellte das freie Bein auf seine weißgefleckte Albinohand.

      3

      Ernie kam durch den Hofeingang herein. Er war die Ruhe selbst. "Fassen Sie mit an", sagte er und packte seinen rechten Schuh. "Wir bringen Kramer erst mal auf sein Zimmer. Da können wir weitersehen."

      "Glauben Sie, dass er wieder zu sich kommt? Ich musste ihm eins über den Kopf geben, weil er versucht hat, nach meinem Bein zu greifen."

      "Seine Lippen sehen blau aus", sagte Ernie nachdenklich. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Ob Schlaganfall oder Kreislaufversagen. Er schob sein rechtes Augenlid hoch und betrachtete seinen Augapfel. "Hat Kramer Sie identifiziert?"

      "Nein, er wollte meinen Pass sehen."

      "Das haben Sie zu verhindern gewusst, was?" Ernie lächelte so breit, dass sein Schaukastengebiss blitzte und an einem Backenzahn ein kleines goldenes Emblem sichtbar wurde. Es sah aus wie ein winziger Adler, der seine Schwingen ausbreitete. Als wenn er gleich im Mund umherfliegen und sich auf der Zunge niederlassen würde, nachdem sich Ernies Lippen geschlossen hatten.

      "Ich glaube, jetzt muss ich mir langsam


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