Pataphysikalische Geheimpapiere. Jules van der Ley
in Hannover und traf Felix Stein alias Frontbumpersticker. Unsere Begegnung verlief ein wenig frostig, denn wir hatten ein kleines Scharmützel gehabt wegen des Untertitels des Sammelblogs „Das bloggende Hannover“. Ich dachte, mach mal gut Wetter, und setzte mich eine Weile zu ihm, denn wenn wir auch anderer Meinung gewesen waren, schätze ich ihn doch wegen seiner Professionalität. Er sagte, er sei freier Texter und schob nach: „Wenn du mal einen Text brauchst …“ Da war ich ein wenig konsterniert und sagte: „Ich schreibe mir meine Texte selber.“ Während der Reisevorbereitung dachte ich, über die eigenen Sachen zu schreiben, das kann ich nicht gut. Also sprang ich über meinen Schatten, vergaß meine Eitelkeit und fragte ihn, ob er mir den Pressetext schreiben könne. Er hat es gemacht, und der Text ist wirklich prima geraten. Die Aachener Nachrichten, die einen Vorbericht und einen Nachbericht von meinem Auftritt veröffentlicht haben, konnten ihn gewiss gut verwenden.
Wir müssen weiter, wer zu lange pausiert, der kriegt die Beine nicht mehr rund. Und der runde Tritt ist bekanntlich das Geheimnis des Radfahrens. Es lockt die Durchfahrt von Porta Westfalica. Der Taleinschnitt ist beeindruckend. Unfassbar steil ragt links das Wesergebirge auf, rechts, ein wenig unterhalb verläuft die Bahnlinie, dahinter ergießt sich breit und behäbig die Weser. Der Weg führt über die Brücke zum anderen Ufer, wo sich der Höhenzug fortsetzt. An der östlichen Flanke thront das Wahrzeichen der Stadt, das Denkmal zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. Das ist der Kerl, der Konrad Duden verboten hat, dem Wort Thron das „h“ zu nehmen, denn er wollte sich seinen Sitz nicht schmälern lassen, dachte wohl, der kaiserliche Hintern sei zu breit für einen Tron.
Er hat sich nicht selbst bemüht, Konrad Duden zurückzupfeifen. Das tat Reichskanzler Otto von Bismarck. Der hatte Duden beauftragt, ein Wörterbuch der deutschen Sprache aufzulegen, um das Rechtschreibchaos im Reich zu beenden. Der Urduden erschien 1880 als „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“. Bismarck hat seinen Beamten bei Strafe verboten, die revolutionäre Duden-Orthographie zu verwenden, und vermutlich tat er das nur wegen der Schreibweise „Tron“. Kurz vor seinem Tod erhielt der betagte Duden eine 2. Chance. Um nicht noch einmal anzuecken, ließ er unzählige Doppelformen zu, was wiederum den Buchdruckereiverbänden gegen den Strich ging, weshalb … wir sind schon auf der Brücke, die das Wesertal überspannt. Das Denkmal hoch oben ist regenverschleiert, und aus dem Wald ringsum dampft es in mächtigen Schwaden. Viel Farbe ist nicht in der Landschaft, abgesehen von der roten Regenjacke eines Radfahrers, der just unter der Brücke durchfährt. Er hat Satteltaschen auf dem Gepäckständer, und da bin ich froh, endlich einen Leidensgenossen zu sehen, aber nicht lange, denn rasch verschwindet er hinter einer Biegung. Ihn einzuholen, das dauert eine Weile, denn der Weg hinunter zum Weserufer macht eine große Schleife.
Es ist wirklich hübsch, entlang der Weser zu fahren, inmitten der Uferwiesen. Rechter Hand ragt der Höhenzug hinauf, und man ist froh, dass der Weg sich zwar immer wieder annähert, aber unterhalb bleibt und bei der nächsten Biegung wieder dem Weserufer zustrebt. Endlich taucht auch die rote Jacke wieder auf, und wie ich sie eingeholt habe, da steckt in ihr ein junger Engländer, die nackten Füße in Sandalen. Ich frage ihn, wohin er will, und er sagt, er wolle nach Belgien. Da hätten wir den gleichen Weg, denn Aachen liegt ja an der Grenze. Aber seine Moral scheint im Keller. Wie das Wetter werden soll, fragt er, und ich sage wahrheitsgemäß, dass mehr Regen versprochen wurde. Das gibt ihm den Rest, vielmehr bekräftigt seine Absicht, in Bad Oeynhausen in den Zug zu steigen und das ersaufende Deutschland sich selbst zu überlassen. Ich bin ihm auch zu schnell, weshalb er sich bald mit guten Wünschen verabschiedet und die Beine hängen lässt.
Bald verlässt mich auch die Weser. Der Weg folgt dem Zufluss der Werre bis ins Stadtgebiet von Bad Oeynhausen und führt mich stracks zum Bahnhof. Hier frage ich eine Taxifahrerin nach einer preiswerten Pension. Sie ruft einen Kollegen heran, und gemeinsam verhandeln sie, dass ich in die Pension Sonntag gehen soll, die zumindest im so genannten „Dichterviertel“ von Bad Oeynhausen liegt. Frau Sonntag hat, um mich einzulassen, ein Kartenspiel verlassen. Als ich mein Rad abgesattelt habe und den großen Wintergarten betrete, da sitzt sie wieder am Tisch mit zwei Freundinnen. Sie spielen mit einem dicken Packen Karten und haben zum Mischen einen Plastikautomaten, der mit einer Kurbel betrieben wird. Frau Sonntag lädt mich zu einem Kaffee ein, aber ich gehe zuerst hoch in mein Zimmer, hänge die nassen Sachen auf und lege mich für eine Weile aufs Bett. Später, ich bin wieder gesellschaftsfähig, da sitzen sie immer noch da. Ich trinke den Kaffee, und eine der Damen fragt mich, ob ich mit Ursula von der Leyen verwandt sei. „Zum Glück nicht“, sage ich arglos. Ich konnte ja nicht wissen, dass ich eine glühende Verehrerin vor mir hatte. Schon bin ich unten durch. Der Regen hat nachgelassen, und so beschließe ich einen Stadtbummel. Bad Oeynhausen ist wegen seiner Thermalsolequellen berühmt. Frau Sonntag empfiehlt mir, mich in eine hineinzulegen, aber ich bin froh, wieder trocken zu sein. Nach solch einer Regenfahrt können mir alle Thermalsolequellen der Welt gestohlen bleiben. Die Quellen von Bad Oeynhausen wurden im 18. Jahrhundert von Schweinen entdeckt. Sie hatten sich im Schlamm gewälzt und waren anschließend mit einer Salzkruste gepökelt. Bad Oeynhausen dankt es ihnen mit einem großen Brunnen im Zentrum.
In der Fußgängerzone lockt in einem Hinterhof das „Brösel“, ein Lokal mit holländischem Flair, denn es ist voll gestopft mit skurrilem Kram, so dass ein einsamer Thekengast genug zum Gucken hat. Hinter der Theke hängen Tafeln mit launigen Aufschriften. „Investiere in Alkohol – mehr Prozente bekommst du nirgendwo“, hängt direkt vor meiner Nase. Der solche Prozente vergibt, ist ein freundlicher junger Mann mit Pferdeschwanz. Man darf bei ihm rauchen, und über dieses lästige Thema kommen wir ins Gespräch. Da schaltet sich der Mann neben mir ein. Er ist ein schwuler Familienvater. Man sieht es ihm nicht an, aber er hat’s mir bald gesagt. 15 Wochen ist er bereits in Bad Qeynhausen in Therapie, denn sein Coming-out hat ihn aus der Bahn geworfen. Er hat eine Frau, zwei Kinder, war wohl ein glücklicher Familienmensch, bis er eines Tages in der Sauna bemerkte, dass er sich für Männer begeistern kann. Seine Frau hat’s vorher gewusst. Als er sich offenbarte, sagte sie: „Dass du schwul bist, hätte ich dir schon vor 20 Jahren sagen können.“ Es gibt, wie er sagt, in Deutschland zwei Millionen schwule Väter, und die Dunkelziffer sei noch mal so hoch. Wenn alles gut geht, werde ich einmal auf dem Bundestreffen der schwulen Familienväter in Göttingen lesen, obwohl ich kein schwuler Familienvater bin.
Falschrum durch Bielefeld – Zwei Cafehausbesitzer auf der Autobahn – Ein schlecht gezapftes Pils – Herford – Bielefeld – Gütersloh
Es mag schön sein in Bad Oeynhausen und anderswo auch. Aber wenn ich morgens meine Packtaschen auf dem Gepäckständer meines Fahrrads befestigt habe und mich verabschiede, dann bin ich jedes Mal heilfroh, ein reisender Internetdichter zu sein, der alles hinter sich lassen kann. Ich steuere wieder den Bahnhof an, will mich bei den Taxifahrern bedanken für ihre gute Wahl der Pension, aber sie sind nicht da. Drei Taxifahrerinnen trinken Kaffee aus Bechern und unterhalten sich. An den Bahnhöfen kann man sich als Radfahrer gut orientieren, denn hier stehen die Hinweisschilder für alle Fahrradstrecken der Region. Die Art der Beschilderung ist freilich verbesserungswürdig. Selten sind die Fernziele angegeben. Auch gibt es unterwegs unerfreuliche Lücken, und manche Schilder weisen in die Irre. Ich will nach Herford und frage die drei Taxi-Damen nach dem Weg. „Was?“ ruft die dickste von ihnen, „mit dem Fahrrad? Da würde ich ja nicht mal mit dem Auto hinfahren!“
Es ist in Wahrheit nicht weit, allenfalls anstrengend, denn aus Bad Oeynhausen geht es lange Zeit bergauf. Die Luft ist schwül, der Himmel dicht verhangen, und manchmal tröpfelt es. Trotzdem genieße ich die Ausblicke auf Wiesentäler und bewaldete Anhöhen. Gestern im „Brösel“ habe ich Herforder Pils getrunken, genug, um meinen Flüssigkeitshaushalt wieder in Ordnung zu bringen, denn ich war recht ausgelaugt von der Regenfahrt. Jetzt freue ich mich auf die Stadt, wo das Bier herkam. Inzwischen bin ich längst in Nordrhein-Westfalen, und warum sich Herford wie fast alle folgenden Städte mit dem Attribut „Fahrradfreundliche Stadt“ schmücken darf, verstehe ich erst richtig, als ich am Freitag die Landeshauptstadt Düsseldorf durchfahre, wovon ich jedem Radfahrer nur abraten kann. Jedenfalls sause ich hinab nach Herford, das verlogene Schild „Fahrradfreundliche Stadt“ wischt vorbei, und mein Rad hüpft über einen der übelsten Fahrradwege, der mir je untergekommen ist.
Herford hat eine schöne Altstadt.