Pataphysikalische Geheimpapiere. Jules van der Ley

Pataphysikalische Geheimpapiere - Jules van der Ley


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räumen Tische und Stühle auf den Platz. Sie sind Südländer, aber sprechen akzentfrei Deutsch. Der Kleinere will demnächst mit dem Auto nach Duisburg fahren und hat leichtsinnig seine avisierte Fahrstrecke preisgegeben. Zu seinem Unglück ist der Größere ein Stühle räumender Autoatlas. Er verlacht den Nachbarn wegen seiner Unkenntnis, sagt, welche Autobahnen er zu nehmen hätte, erklärt ihm noch mal und noch mal, wie falsch seine Planung ist, ja, wenn er in die Innere Mongolei wolle, dann wäre die Route richtig, aber nach Duisburg, so fährt man doch nicht nach Duisburg, wenn man die Siebenzwetschgen beisammen hat. So fahren noch nicht mal die dümmsten Idioten von Herford nach Duisburg, hehe. Sie fahren so und so.

      Ich höre mir das eine Weile an, denn ich habe Zeit. Zu meinem ersten festen Lesetermin in Essen werde ich erst am Donnerstag erwartet. Die Strecke wäre in drei Tagen zu schaffen. Jetzt muss ich vier daraus machen, denn ich hatte den Termin verabredet, ohne eine feste Vorstellung zu haben, wie ich fahren will. Ich kenne viele, die nie in solche Verlegenheit geraten, immer alles genau planen, nie ohne Flickzeug fahren würden und auch immer die richtige Fahrtroute vor Augen haben. Selten beneide ich sie. Als Referendar hatte ich einen Kunst-Fachleiter, der stolz war, zusammen mit Joseph Beuys studiert zu haben. „Sie müssen antizipieren!“, mahnte er uns immer wieder. Guter Unterricht müsse vorausschauend geplant sein, und Imponderabilien sollten weitgehend ausgeschaltet werden. Das letztere habe ich schon damals nicht geglaubt und gedacht, das ist vermutlich der Grund, warum der eine Student später Kunstlehrer geworden ist und der andere Künstler mit Weltruf. Planen muss man, aber da müssen auch Leerstellen sein, damit sich das Leben entfalten kann. In meinem Leben hat es immer Imponderabilien gegeben, denn ich bin blauäugig von Beruf. Ich kann es nicht anders, es ist Teil der kreativen, pataphysikalischen Lebenshaltung. Deshalb schaue ich mit Sympathie auf den Kleineren, der von seinem Nachbarn so erbärmlich geschurigelt wird. Der ist vielleicht nur neidisch, weil er vor seinem Lokal deutlich weniger Tische und Stühle hat, obwohl er genau weiß, wie die dümmsten Idioten von Herford nach Duisburg fahren.

      Mir ist ein bisschen mulmig, durch Bielefeld zu fahren. Nachdem mich Bielefelder wegen des YouTube-Filmes „In Bielfeld ist das Wegfahren am schönsten“ heftig beschimpft haben, bin ich vermutlich eine unerwünschte Person. Ich gerate auf einen Schotterweg, und würde der tatsächlich wie versprochen nach Bielefeld führen, müsste ich sagen, der Weg nach Bielefeld ist steinig und endet in der Einöde, wo Arbeiter im Becken einer neuen Kläranlage stehen und Kies harken. Als ich endlich einen Weg ins Zentrum finde, da ist es eine schier endlose, lärmende Straße durch ein Gewerbegebiet. Sie ist gesäumt von den versammelten Einrichtungen sozialer Deprivation, hat Spielhalle, Bordell, Pornoläden, Filialen zweier Fastfoodketten und eine Selbstwaschanlage, wo einhundert Bielefelder vorfahren können, um gleichzeitig ihr Auto zu waschen. Ich halte mich nicht lange auf in Bielefeld. Wenn man die Stadt verlässt, ist die Beschilderung prima, und der Randbezirk ist deutlich hübscher. Also finde ich das Wegfahren schon wieder am schönsten, aber bitte, liebe Bielefelder, mein Eindruck ist höchst subjektiv, denn es kommt ja darauf an, aus welcher Richtung man die Stadt durchquert.

      Nach Gütersloh hin ist die Landschaft flach. Man sieht stattliche Bauernhöfe, umgeben von Kastanien und anderem Gehölz inmitten großer Hauswiesen. In Gütersloh sollte es junge Katzen, Hunde und Meteorologen regnen. In weiser Voraussicht halte ich an einer einsamen Konditorei und stärke mich, esse draußen am Tisch ein belegtes Brötchen zum Kaffee. Von Hannover bis Aachen jubeln sie dir in den Bäckereien einen Schlag Remoulade unter, heimtückisch verstecken sie das Zeug unter einem Salatblatt. Vermutlich wollen sie dem Kunden eine freudige Überraschung bereiten, wenn er ins Brötchen beißt, und in alle vier Himmelsrichtungen pratscht die Remoulade heraus. Auf einer Kreidetafel vor der Tür verheißt die Konditorei „Pflaumenzungen“. Ich durchsuche meinen faulen Nachmittagskopf nach Pflaumenzungen und finde Kartoffelaugen, hab schon welche ausgestochen, Knollennasen, Blumenkohlohren, Bananenflanken, Orangenhaut, Apfelbrüste, ja, sogar Pfirsichärsche und einige, die mir nicht einfallen, die kenne ich auch. Aber „Pflaumenzungen“? Nie gehört. Aber ich bin auch nicht von hier. Die Bäckereifachverkäuferin mag ich nicht fragen, als ich das Tablett zurückbringe, denn sie bündelt ächzend nicht verkaufte Zeitungen. Viele nicht verkaufte Zeitungen. Das geschriebene Wort hat es heutzutage schwer. Es ist einfach zu leicht geworden.

      Das schlecht gezapfte Pils der Überschrift sollte ich in Gütersloh trinken. Aber das ist eine kleine Sache, kaum der Rede wert, denn als ich das schlecht gezapfte Pils bekam, saß ich eine Weile in angenehmer Umgebung und versuchte mir die Pension schön zu saufen, die man mir in der Gütersloher Touristinformationszentrale aufgeschwatzt hatte. Die Pension wäre zweifellos Luxus nach einem Atomschlag, aber wenn es nur regnet wie Sau …

      Tiefpunkt der pataphysikalischen Reise – In Gütersloh

      Irgendwann Ende der 60er Jahre wusste der Bürgermeister von Gütersloh nicht wohin mit einer leeren Zigarettenpackung, da hat er sie kurz entschlossen mitten ins Zentrum des Stadtplans gestellt und gesagt: „Das wird unser neues Rathaus.“ Da nahm der Sparkassendirektor zwei Streichholzschachteln, stapelt sie quer daneben und sagte: „Und das wird die Sparkasse. Geld und Politik müssen zusammenhalten.“ Der Bürgermeister beauftragte die besten Leute aus dem Liegenschaftsamt, der gelungenen architektonischen Lösung den letzten Schliff zu geben, und die hängten eine Uhr und ein Glockenspiel an die fensterlose Stirnseite. Fertig war das Rathaus. Und nebenan stand die Sparkasse.

      Es herrscht da ein ständiges Kommen und Gehen, als ich gut 50 Jahre später am Gütersloher Rathaus vorbeirolle. Ich weiß nicht, was es ist, ob es die Durchquerung von Bielefeld war, die heimtückische Remoulade auf dem Käsebrötchen oder der Anblick des Gütersloher Rathauses mit Uhr und Glockenspiel auf der fensterlosen Stirnseite - ich bin auf einmal sehr müde. Ach, denke ich, die Leute hier sehen ganz und gar nicht so aus, als würden Sie meine Texte hören wollen. Hier brauche ich erst gar nicht zu fragen. Das ist natürlich eine Unverschämtheit gegenüber den Güterslohern. Aber wie da ständig welche ins Rathaus rennen, das verheißt nichts Gutes. Vermutlich müssen die Gütersloher Bürger einmal im Monat hin und kriegen dann im zuständigen Amt was zwischen die Hörner, damit sie willfährig bleiben.

      Das würde erklären, warum diese Stadt keine nennenswerten Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Zwei Komiker stehen auf der Liste der berühmten Bürger und natürlich der Firmengründer Carl Bertelsmann, der im 19. Jahrhundert fromme Bücher gedruckt hat. An der Carl-Bertelsmann-Straße aber sitzt die Bertelsmannstiftung. Und das macht Gütersloh zur heimlichen Hauptstadt der Republik. Viele der Scheußlichkeiten, mit denen uns die neoliberalen Regierungen unserer Tage das Leben schwer machen, die hat man sich bei der Bertelsmannstiftung ausgedacht, die Eckpunkte von Schröders Agenda 2010 und mithin Hartz IV, die Studiengebühren, die neoliberale Ausrichtung der Hochschulen und des Arbeitsmarktes. Die Stiftung wächst beständig. Ihr gehören rund 77 Prozent des Medienriesen Bertelsmann, und weil die Stiftung weniger ausgibt als der Bertelsmannkonzern durch sie an Steuern spart, finanziert hier der Steuerzahler seinen eigenen Kriechgang in die Knechtschaft des Geldadels.

      Bielefeld, das war Spaß, aber hier bin ich in feindseliger Stimmung. In Touristinformationszentralen legen sie keinen großen Wert auf durchreisende Radfahrer. Die geben kaum etwas aus in der Stadt, schlürfen abends nur eine 5-Minuten-Terrine, und am nächsten Morgen sind sie wieder weg. Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, sollte in der Touristinformation nicht nach einer Unterkunft fragen, das lerne ich in Gütersloh. Sie schicken mich jedenfalls zu einem nahen Hotel. Dessen Außenwerbung ist völlig verrottet, so dass ich zuerst gar nicht glaube, dass es noch besteht. Die Rezeption ist auf der ersten Etage, und wenn ich sage, der Teppich vor dem Aufzug war nicht sauber, dann ist das euphemistisch. Der Teppich ist ein lumpiges Bazillenmutterschiff. Seine Flecken beherbergen uralte Universen von Mikroben. Der Aufzug ächzt bedenklich. Er kann schon 20 Jahre nicht mehr. Aber der Tüv verweigert ihm böswillig die Verschrottung. Vermutlich sitzt da ein Schwager des Hoteliers.

      Als ich den Hotelier an der Rezeption sehe, wird mir ein wenig mulmig, und seine Freundlichkeit ist mir nicht geheuer. Aber das ist ein Vorurteil, durch sein Umfeld hervorgerufen. Wenn ihm Novizen mit Weihrauchfässern vorweg laufen würden, könnte er gewiss auch als katholischer Bischof durchgehen. Nein, er habe in seinem Hotel kein Zimmer frei. Aber in seiner Pension könne er mich für 30 Euro Vorkasse unterbringen.


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