Die Freistaaten. Jens Zielke

Die Freistaaten - Jens Zielke


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getrennt und basta“, hörte er sich selbst sagen.

      Seine damalige Klassenlehrerin war eine junge Pädagogin Jahrgang '61. Wegen der späten Geburt war es ihr schwergefallen, den deutschen Wunsch nach einer Wiedervereinigung zu erklären.

      „Für die älteren Bürger ist die Wiedervereinigung ein zentrales Thema“, erklärte sie wenig überzeugend.

      „Was soll das. Ohne die Pershing II wären die Sowjetpanzer schon unterwegs“, quatschte sein Freund dazwischen.

      „Wiedervereinigung auf Russisch“, fügte er unter dem Gelächter der Mitschüler hinzu.

      „Lieber rot als tot“, tönte es aus der hintersten Reihe.

      „Andi ist doch bei den Jusos. Hängt den Genossen neben die Grünen, solange es noch Bäume gibt.“ Seine bei der Klassensprecherwahl unterlegene Gegenkandidatin hatte für einen weiteren Lacher gesorgt.

      Veralbert war die Stunde zu Ende gegangen.

       1986 hätten 90 % der Deutschen, wie wir, jede Wette angenommen, dass es nie zur Wiedervereinigung kommt. Doch nur drei Jahre später fiel die Mauer.

      Schindlings in Fluss gekommene Erinnerung landete in einer Geschichtsstunde der Oberstufe.

      „Hätten Sie im Februar 1929 den Bürgern der Weimarer Republik erzählt, dass in vier Jahren ein menschenverachtendes totalitäres Regime an der Macht ist. Was denken Sie, hätten die zu Ihnen gesagt. Und hätten Sie weiter prognostiziert, dass deren Rechtsbewusstsein genauso eingeschränkt wird wie die Pressefreiheit.“

      Tätchler, sein Geschichtslehrer, war von der Tafel in die Mitte der Klasse getreten und auf seine unnachahmlich besserwisserische Art hatte er die Ausführungen beendet.

      „Selbst jene, die fünf Jahre später ihre Nachbarn an die Gestapo verraten haben, hätten zu ihnen gesagt: Alter du hast den Arsch offen.“

      Er hatte als einer der wenigen gelacht. Tätchler hatte eine Mischung aus Autorität und Witz besessen, die bei aller Abneigung für eine gewisse Bewunderung bei ihm gesorgt hatte.

       Drei bzw. fünf Jahre, in denen das Unvorstellbare Realität wurde.

      Durch sein Fenster sah Schindling auf das Treiben vor dem Kanzleramt. In der Scheibe zeichnete sich sein Spiegelbild ab. Das Spiegelbild zeigte einen gut aussehenden, vertrauenswürdigen Mann Anfang fünfzig, der ausgeprägte Wangenknochen und volles schwarzes Haar besaß. Im Geiste formulierte er seine Rede.

      Dreißig Minuten hatte Schindling gebraucht, um sich auf die vom Innenminister einberufene Pressekonferenz vorzubereiten, eigentlich war das zu wenig Zeit. Er musste sich aber der Bevölkerung stellen. Die im Süden allgegenwärtige Kampagne hatte wie von ihnen befürchtet eine Lawine der Empörung im Nord-Osten des Landes ausgelöst. In den zurückliegenden Jahren waren mehrfach Artikel gedruckt worden, die sich mit einer Abspaltung des Südens beschäftigt hatten. Für voll genommen hatte die jedoch keiner. Dass dies ein folgenschwerer Fehler war, wurde ihm jetzt bewusst und er war stinksauer. Noch beschränkte sich seine Wut aber auf die drei Ministerpräsidenten des Südens. Keiner von ihnen hatte sich bisher gemeldet. Ungehalten trat er in den Presseraum des Kanzleramtes, vor die Journalisten. Wie ganz Deutschland standen die unter Schock. Er konnte sehen, dass sie darauf hofften, dass er eine plausible Erklärung für die Kampagne hatte. Leider war dem nicht so und er verzichtete auf eine Begrüßung. Die Situation war zu ernst und nette einleitende Worte würden die Vorkommnisse nur verharmlosen.

      „Als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland“, sagte er aus dem Stegreif, „möchte ich die Bürgerinnen und Bürger des Landes auf das ansprechen, was heute Morgen begonnen hat. Es geht um die im Süden des Landes gestartete separatistische Kampagne. Bevor ich zum Kern komme, möchte ich aber eines klipp und klar sagen. Deutschland wird solch eine absurde Bestrebung nicht dulden. Und für die, die auch nur im Entferntesten daran denken, dieser Revolution zu folgen, wird das ungeahnte Konsequenzen haben. Jeder in diesem Land sollte bedenken, dass wir einen Wohlstand in der Bundesrepublik geschaffen haben, den nur wenige Staaten ihr Eigen nennen können. Und das verdanken wir alleine dem Umstand, dass die Stärkeren für die Schwächeren eingestanden sind. Gemeinsam haben wir Opfer gebracht, die unser Land stark machten.“ Schindling hielt kurz inne und der gesamte Presseraum starrte ihn an. Er hatte wie stets auf einen Redenschreiber verzichtet. In solchen Fällen verließ er sich auf sein Einfühlungsvermögen und seine angeborene Rhetorik.

      „Und mit aller Deutlichkeit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass diese süddeutschen Fanatiker die Bundesrepublik Deutschland zerstören wollen. Die Bundesregierung wird mit allen juristischen Mitteln dagegen vorgehen. Das ist eine Warnung an all die Kräfte, die das zerstören wollen, was unsere Väter, Mütter und wir selbst erschaffen haben. Ich klage sämtliche an den Unabhängigkeitsbestrebungen beteiligte Personen der Volksverhetzung an.“

      Schindlings eben noch verhärteten Gesichtszüge weichten auf.

      „Dasselbe gilt für diejenigen, die zur Verbreitung der Hetzschriften beitragen.“

      „Wenn es nach mir geht, würde ich jeden, der auch nur im Entferntesten an der Geschichte beteiligt ist, in Untersuchungshaft nehmen“, sagte der Innenminister. Er stand zwischen Dana Engelhard, einer seiner Staatssekretärinnen, und dem Außenminister, unweit vom Kanzler.

      „Wird schwer werden, die Sezession vor Gericht zu stellen“, antwortete seine Staatssekretärin.

      „Woher nehmen Sie die Weisheit?“

      „Wer auch immer dafür verantwortlich ist, hat viel Geld ausgegeben. Er wird die besten Anwälte auf seiner Gehaltsliste haben.“

      „Stimmt. Bei unserem Gegenspieler ist mit allem zu rechnen.“

      „Sie wissen, wer es ist?“

      „Oh ja.“

      „Wer?“

      „Das werden Sie gleich bei der Besprechung erfahren“, sagte der Innenminister und schloss sich dem Tross an der sich hinter Schindling gebildet hatte. Schindling hatte seine Ansprache an die Presse soeben beendet und an ihnen vorbei den Presseraum verlassen.

      Leise diskutierend begaben der Innenminister und der Außenminister sich in den Konferenzsaal Nr. 1. So nannte Schindling den Raum, den er für Geheimbesprechungen bevorzugte. Fünfundzwanzig Lederstühle mit hoher Rückenlehne verteilten sich um einen überdimensionalen Tisch. An jedem Platz des champagnerfarbenen Tisches war ein Computerbildschirm eingelassen. Sämtliche Männer und Frauen, die zu dem Tross gehörten, sahen Schindling erwartungsvoll an, während sie sich an den Tisch setzten.

      „Sie sind darüber informiert worden.“ Schindling baute sich an der Stirnseite des Tisches auf. „Dass der Süden des Landes seit den frühen Morgenstunden mit Abspaltungs-Propaganda überflutet wurde. Dafür verantwortlich zeichnet Freiherr Adrian Benedikt von Carstheim. Er ist Chef der Bühler Firmengruppe. Seine Familie gehört zum ältesten süddeutschen Adel. Ich brauche Vorschläge, wie wir mit der Kriegserklärung aus dem Süden umgehen sollen.“

      „Herr Bundeskanzler. Das alles klingt doch sehr unglaubwürdig, kein Mensch wird dem Unsinn Gehör schenken. Es ist unvorstellbar, dass die Bevölkerung auf solch einen Unfug hereinfällt“, sagte ein Staatssekretär des Außenministers.

      „Wäre ich der Meinung, dass es sich um einen Scherz handelt, würde ich nicht unsere Zeit verschwenden.“ Schindling packte verblüfft von der Aussage des Staatssekretärs den Aktenstapel, der sich vor ihm auftürmte, und schob ihn zum Innenminister. Die Akten beinhalteten die Grundaussagen der Separatisten. Das Innenministerium hatte sie aus dem Internet besorgt. Gerade in den sozialen Netzwerken war die Kampagne besonders stark vertreten.

      „Wir dürfen uns nicht lächerlich machen. Eine Unabhängigkeit von Bundesländern ist nicht zu verwirklichen“, sagte der noch amtierenden Außenminister und Vizekanzler. Als Parteivorsitzender der CDU war er aber nur noch Regierungsmitglied auf Zeit. Und ihm erging es wie seinem Staatssekretär. Er hielt die Sezessionsbestrebungen


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