Die Sonne über Seynako. Sheyla McLane
Ort brachte ihr das schrille Lachen, den wahnsinnigen Singsang der Alten so lebhaft ins Gedächtnis, dass ihr Magen rebellierte und sie die Augen schließen musste, um nicht die Ritzen des Holzbodens anzusehen. Sie versuchte, ruhig und gleichmäßig durch die Nase zu atmen und die Tatsache, dass sie heute dort saß und Suppe schlürfte, wo vor wenigen Wochen Menschen auf bestialische Art und Weise ums Leben gekommen waren, zu verdrängen.
„Irina ist fortgelaufen.“, sagte die Frau. „Durch den Nebel hindurch Richtung Norden.“
Azur sprang auf und stürmte hinaus. Sie hatte das Gefühl, in diesem Haus ersticken zu müssen.
„Entschuldigt mich.“ Alec lief ihr nach. „Azur, was ist los? Hat dich die Geschichte erschreckt?“
Sie schüttelte den Kopf, zwang sich zu einem verunglückten Lächeln und wollte sich ein paar Schritte von ihm entfernen, doch ihre Beine gaben nach. Es ging zu schnell, als dass Alec sie hätte auffangen können.
Der Seher erschien im Türrahmen, die Stirn unwirsch in Falten gelegt.
Alec fühlte Azurs fiebrige Stirn. „Wie müssen sie sofort nach Cian bringen. Sie braucht einen Medikus.“
Doch Allan schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein, mein Prinz. Es fängt gerade erst an, interessant zu werden.“
„Der Meister ist hier…“ Azur versuchte zu erfassen, woher die Stimme kam, aber bei der pechschwarzen Dunkelheit um sie herum war das ein Ding der Unmöglichkeit. Sie hörte Hufgetrappel sich nähern und erinnerte sich an das Heer, das sie gesehen hatte, bevor die Sonne sich verdunkelte. Ihr erster Instinkt war es, fortzulaufen und sich so vor der Horde in Sicherheit zu bringen. Die Soldaten würden sie nicht sehen und darum lief sie Gefahr, unter die Hufe ihrer Schlachtrösser zu geraten.
Aber etwas veranlasste sie dennoch dazu, stehen zu bleiben. Nein, die Geräusche stammten nur von einem einzelnen Pferd. Sie hörte auch nicht das metallische Scheppern der Rüstungen und Waffen, sondern nur das Wehen von Stoff im Wind, vielleicht das einer Fahne?
Plötzlich verstummten auch diese Laute. Wer auch immer es in dieser Dunkelheit geschafft hatte, nicht vom Pferd zu fallen, musste sich jetzt in ihrer unmittelbaren Nähe befinden und das brachte sie in enorme Bedrängnis. Sie hielt den Atem an. Wartete. Spitzte die Ohren.
Da spürte sie auf einmal einen Luftzug in ihrem Nacken, warmen Atem, und zwei Arme schlossen sich von hinten um sie wie eine Schraubzwinge. Sie wollte schreien, aber es gelang ihr nicht. Keinen Ton, nicht einmal ein schwaches Winseln brachte sie hervor.
Laute Flügelschläge durchschnitten die Nacht, wie eine scharfe Klinge Samt zerteilt. Sie blickte nach oben und sah Feuer. Fliegendes Feuer, das die Dunkelheit erhellte.
„Azur!“ Sie fuhr hoch, die Bilder in ihrem Kopf verblassten, stattdessen blickte sie in Alecs Gesicht, dankbar dafür, wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt zu sein. Allan erhob sich ächzend von seinem Stuhl und schlurfte an das Lager, auf dem Azur erwacht war. „Sie hatte eine Vision.“, stellte er fest, nachdem er kurz ihren Puls gefühlt und ihr tief in die Augen gesehen hatte. „Verflucht, ich möchte zu gern wissen, was ihr solche Angst eingejagt hat. Schaut sie Euch an, mein Prinz! Vielleicht besitzt sie die Fähigkeit Ereignisse vorauszusehen – und wir können diese Gabe nicht nutzen, weil das Mädchen stumm ist und uns ihre Visionen nicht mitteilen kann.“
Azur rollte sich wie ein getretener Hund zusammen und weinte leise in das Fell, auf dem sie lag und das ihr verriet, dass sie sich immer noch in Ghabran befanden.
„Gibt es denn nicht so eine Art Zeichensprache?“, fragte Alec, während er ihr mitfühlend über den Rücken strich.
„Die mag es geben, aber ich kenne keine.“
„Dann könnte sie das Schreiben lernen, oder?“
„Das wird sie müssen.“, erwiderte Allan. „Doch ich fürchte, wir haben die Zeit nicht mehr, junger Prinz.“
Kapitel 8
König Darius gab den Befehl, eine Gruppe seiner besten und erfahrensten Soldaten solle ins Feoras-Gebirge reiten, Irina suchen und zurückbringen. „Das Mädchen wird uns zu diesem Meister führen.“, verkündete er zuversichtlich. „Und kennen wir erst sein Versteck, dürfte es mit Sols Hilfe ein Leichtes sein, ihn auszuschalten.“
Azur musste unterdessen Lesen und Schreiben lernen. Ihre Lehrerin, eine Priesterin aus dem Tempel des Sonnengottes, versuchte Azurs Unerfahrenheit durch doppelte Strenge wettzumachen.
Wenn ihr bereits die Buchstaben vor den Augen tanzten und sie keinen Federstrich mehr tun wollte, dann gab die Priesterin ihr einen Klaps auf den Hinterkopf und nannte sie eine „dumme Bauerngöre“. Dann sehnte sich Azur nach ihrer Familie, dem Haus und den Feldern ihres Vaters, wo sie sich nicht wie ein Edelfräulein benehmen, kein Alphabet und keine Zahlen kennen musste und wo man sie wie einen Menschen behandelte, anstatt wie eine dressierte Äffin. Der Einzige, in dessen Gegenwart sie sich wie ein normales Mädchen fühlte, war Prinz Alec. Der Königssohn sorgte sich nach wie vor sehr um sie und obwohl Azur für seine Herzlichkeit dankbar war, hatte sie immer die Stimme der Priesterin im Hinterkopf, wenn sie Zeit mit ihm verbrachte. Er war der gebildete, charismatische Thronfolger Seynakos, für den alle Frauen schwärmten. Sie dagegen war nur eine dumme Bauerngöre.
Es stand ihr nicht zu, dass er sie sympathisch fand.
Eines sonnigen Nachmittags saß Azur im königlichen Garten an ihrem Lieblingsplatz unter einer Weide und quälte sich selbst bei dem Versuch, ein Buch zu lesen. Hatte sie es einmal geschafft, ein paar Worten Sinn abzugewinnen, schnürte das lange, kostbare, aber keinesfalls alltagstaugliche Kleid sie ein und sie musste das Buch absetzen, um eine erträgliche Position zu finden, die dem Kleid nicht schadete. Dame Telda wäre außer sich, wenn der Stoff einen Grasfleck oder – Sol verhüte! – einen Riss davontrüge.
Am liebsten hätte Azur das unerträgliche Ding kurzerhand abgestreift, so wie die Absatzschuhe, die sie neben die Decke gestellt hatte, auf der sie saß.
Es tat gut, einmal die nackten Füße zu strecken, die rote Druckstellen von den abscheulich unbequemen Schuhen davongetragen hatten. War es Azur gelungen, eine Haltung zu finden, die sich eine Weile aushalten ließ, machte sie sich daran, die Stelle im Buch zu finden, an der sie eben stehengeblieben war. Je länger sie auf die Buchstaben starrte, deren Aussage sie in der Zwischenzeit wieder vergessen hatte, desto blöder kam sie sich vor. Was in ihrem Gehirn sträubte sich dagegen, sie sprechen, lesen und schreiben zu lassen? Resigniert schlug sie das Buch zu und die Hände vors Gesicht.
„Störe ich?“
Sie fuhr herum und schämte sich zum vielleicht tausendsten Mal vor Prinz Alec. Eilig schüttelte sie den Kopf und spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss.
„Was hast du, Azur?“, fragte er. Sanfter als sie ertragen konnte. „Du siehst unglücklich aus.“
Sie zuckte mit den Schultern und erinnerte sich erst im Nachhinein daran, dass einem Edelfräulein eine solch bäuerliche Geste nicht anstand.
„Darf ich mich einen Moment zu dir setzten?“ Alec ließ sich neben ihr auf der Decke nieder. Nicht zu weit entfernt, das wäre unhöflich gewesen, und nicht zu nahe bei ihr, um nicht aufdringlich zu wirken. Seine Manieren entsprachen ganz seinem Stand. Er nahm das Buch in die Hand und blätterte darin. „Das ist ein sehr schönes Werk. Hast du es gelesen?“
‚Ich habe es versucht.’, dachte Azur und schlug die Augen nieder.
„Verstehe.“, sagte Alec, auch wenn sie bezweifelte, dass er das tat. „Soll ich dir daraus vorlesen?“
Es war sicher nicht angemessen, ihn darum zu bitten. Aber wenn er sie fragte, wäre es nicht untugendhaft, sein Angebot abzulehnen? Sie nickte so erhaben wie möglich.
„Gut.“, lächelte Alec ehrlich erfreut. „Das Buch gehörte meiner Mutter. Es… ist eine Romanze.“
Beide blickten kurz in entgegengesetzte Richtungen, um ihre Verlegenheit zu verbergen, bevor Alec begann: „Der Prinz hatte es geahnt, nein, gewusst. Jedes Mal,