Die Sonne über Seynako. Sheyla McLane
es seinen Vater nicht erfreuen würde, wenn er ihre Verlobung bekannt gab, doch er war fest entschlossen, sich, wenn es sein musste, gegen alle Zwänge zu stellen, denn er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt, schon von ihrer ersten Begegnung an.“ Alec stockte. „Entschuldige, ich glaube ich bin überhaupt kein guter Vorleser.“
Sie hatte gar nicht darauf geachtet, was er gelesen hatte, sondern war im melodischen Klang seiner Stimme und in seinen braunen Augen, die konzentriert von Zeile zu Zeile gesprungen waren, versunken. Als er das Buch beiseitelegte und sich erhob, kam sich auf ihrer Decke klein und deplatziert vor. Schnell ergriff sie seine Hand, bevor er gehen konnte, um ihm zu verstehen zu geben, wie sehr ihr sein Vorlesen gefallen hatte.
„Es tut mir leid, Azur. Wahrscheinlich langweile ich dich.“
Bestürzt schüttelte sie den Kopf. Wie in Sols Namen kam er dazu, so etwas zu denken? Sie zog leicht an seiner Hand und sah unbeholfen zu ihm auf. Wenn er jetzt ging, dann würde der Eindruck dieser komischen, kurzen Begegnung lange Zeit zwischen ihnen stehen und einen unbefangenen Umgang miteinander verhindern, das spürte sie.
Alec gab ihrer stummen Bitte nach und kniete sich wieder neben sie, diesmal mit mehr Abstand. „Du fühlst dich unwohl, nicht wahr, Azur?“
Wie sollte sie darauf reagieren? Vorsichtshalber schaute sie weg.
„Ich weiß, dass du Zweifel hast, dass du am liebsten fortlaufen würdest und ich kann es dir nicht übelnehmen.“ Alec seufzte schwer. „Du musst dir vorkommen wie ein seltener Vogel in einem goldenen Käfig und ich fühle mich schuldig deswegen, als sei ich der Wilderer, der dich gefangen und in diesen Käfig gesperrt hat. Ich habe dich dazu gezwungen zurückzukommen, als du fliehen wolltest. Kannst du mir das verzeihen?“
Versöhnlich strich sie über seinen Handrücken. Es gab nichts, wofür er sich entschuldigen musste. Er hatte rechtmäßig im Namen seines Landes gehandelt. Sie sollte um Verzeihung bitten, weil sie im Gegensatz zu ihm nicht das Recht besaß, nur dem eigenen Gutdünken nach zu handeln. Selbst diese winzige Geste der Vergebung, ihre Fingerspitze an seiner Hand, war anmaßend. Wäre es ihr vergönnt, zu sprechen, sie hätte aus Scham sicher etwas sehr Dummes gesagt.
„Womöglich glaubst du, ich hätte es aus Pflichtbewusstsein getan.“, fuhr Alec fort. „Aber es war purer Eigennutz, Azur, nichts als Eigennutz. Ich konnte das Gefühl nicht ertragen, dich nie wiederzusehen.“
Sie fühlte, wie ihr Herz schneller zu klopfen begann. Zornig auf das Prickeln unter ihrer Haut, senkte Azur den Blick, doch sanft er legte einen Finger unter ihr Kinn und bat: „Sieh mich an.“
Seine Wärme, der Duft seiner Kleider und die Berührung, die er ihr zuteilwerden ließ, machten Azur schwindelig vor Glück. Das Sonnenlicht brachte die goldenen Sprenkel seiner Iris zum erleuchten. Sein Gesicht war weicher und sein Blick tiefer als je zuvor und plötzlich verstand Azur, wie verletzlich sie beide sich in diesem Moment zu sein erlaubten. Welches Opfer musste es für ihn, der er der Thronfolger Seynakos war, bedeuten, wenn er sich tatsächlich entscheiden sollte, sie zu küssen? Musste er damit nicht unweigerlich seine Pflicht, seine Herkunft, sich selbst verraten? Oder war es das, was Prinzen zu tun pflegten – sich die Frauen zu nehmen, deren Schönheit sie zu kurzem und vergänglichem Begehren reizte? Aber sie war nicht schön.
Der Gedanke ließ Azur zurückzucken. Ich bin nicht schön. Ein missgestaltetes, dummes Bauernmädchen bin ich, nichts weiter.
Alec entging ihr Zögern nicht. „Azur.“, seufzte er und Melancholie legte sich wie Staub auf seine Miene. „Wahrscheinlich habe ich deine Gesten… falsch interpretiert. Ich…“
„Prinz Alec, Azur! Kommt schnell, etwas Schreckliches ist geschehen!“
Allan, der in den Garten stürmte und dabei aufgeregt mit den Armen fuchtelte, zerriss den zarten Schleier endgültig.
Nun sprang Alec auf, ganz der pflichtbewusste Königssohn, und Azur schämte sich dafür, dass sie beinahe seine Lippen durch die ihren beschmutzt hätte. Eilig schlüpfte sie in ihre Schuhe, bevor sie Allan in den Thronsaal folgte.
Darius, umringt von seinen Generälen und Beratern, erwartete sie. Die Ratlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ein Mann in einer verbeulten Rüstung, augenscheinlich schwer verwundet, war der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Um nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen, musste er von zwei Wachen gestützt werden.
„Schaut euch diesen Unglücksteufel an!“ Darius deutete auf den verletzten Soldaten. „Er ist der einzige, der lebend aus dem Feoras-Gebirge herausgefunden hat. Und wisst ihr, wer ihn so zugerichtet haben soll?“
„Ein wildes Tier?“, mutmaßte Alec.
„Pah, in Sols Namen, ich wünschte, es wäre so!“, rief der König aus. „Aber es war kein wildes Tier.“
Kapitel 9
„Blair, das gefällt mir ganz und gar nicht.“ Verschwörerisch senkte Ivar seine Stimme. „Unser Magier plant hier etwas über unsere Köpfe hinweg, das uns alle umbringen wird.“
Blairs Faust landete auf dem Tisch. „Du kannst nicht so über ihn sprechen, er ist dein Herr und Meister. Wenn er es befiehlt, wirst du deine Zunge einmal um deinen Torso wickeln und dich kopfüber daran aufhängen!“
Ivar schnaubte verächtlich. „Ich werde ihm nie verzeihen, wie er Kennan abgeschlachtet hat. Er war ein ehrenvoller Krieger. Und diese verdammte Hexe, diese Irina, sähe ich am liebsten gebrandmarkt mit einem Strick um den Hals.“
Blair ließ den Kopf in den Nacken fallen. Er verstand den Groll des Ritters gegen Alefes und seine „Hexe“, wie die Männer sie getauft hatten. Doch gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass dem Halbgott gelungen war, was er beabsichtigt hatte. Die Ritter mochten hasserfüllte Reden schwingen und verbittert mit den Schwertern rasseln, doch das täuschte nicht darüber hinweg, dass sie vor Angst zitterten. Alefes legte keinen Wert darauf, dass sie ihn mochten oder gar verehrten, solange sie nur seine Überlegenheit nicht infrage stellten.
„Verflucht Blair, diese Zauberei wird einmal unser Untergang sein.“
„Denkst du gar nicht an das, was Alefes uns versprochen hat? Er kann Seynako einnehmen, ohne dass auch nur ein einziger Mann dafür bluten muss. Wir werden unendliche Reichtümer…“
„Es geht ihm nicht um die Reichtümer, Blair!“, unterbrach Ivar ihn und raufte sich seine dicke, schwarze Lockenpracht. „Du kannst mir nichts vormachen, dazu kenne ich dich zu gut. Ich weiß, du denkst genauso wie ich. Hör zu, du hast mehr Einfluss auf Alefes als jeder andere von uns. Du musst ihn daran erinnern, welche Dienste der Clan ihm all die Jahre erwiesen hat. Die Mondgöttin möge verhüten, dass er eines Tages auf den Gedanken kommt, uns nicht mehr zu brauchen.“
Blair musste zugeben, dass auch ihm vor Alefes‘ immer größer werdender Macht graute, doch was seinen Einfluss auf den Meister betraf, überschätzte Ivar ihn. Sein jüngster Versuch ihm ins Gewissen zu reden war gerade noch glimpflich abgelaufen, aber er würde nichts darum verwetten, es auch ein zweites Mal zu überleben. Blairs Aufgabe war es, seine Befehle entgegenzunehmen und deren kompromisslose Ausführung zu überwachen. Wenn er sich erdreistete, Einfluss auf den Halbgott ausüben zu wollen, würde dieser ihn in Stücke reißen, bevor er „Seynako“ sagen konnte.
„Ivar, wie lange kennen wir uns schon?“, fragte er, ohne sein Gegenüber anzusehen. Stattdessen heftete er seinen Blick starr auf die Kerzen, die zwischen ihnen auf dem mit Wachs bekleckerten Tisch standen und neben einigen Fackeln den Raum mit lebendigem Licht versorgten.
Die Augen des anderen Ritters waren von so stechendem Blau, dass sie selbst dann noch glühten, wenn die halb im Schatten seiner hohen Stirn verborgen lagen. „Ich kenne dich lang genug, um zu wissen, dass du ein kluger Mann bist, der seine eigenen Prinzipien hat. Lass dir diese Prinzipien nicht durch Habgier ersetzen, noch dazu durch die eines anderen Mannes.“
Vor Blairs Augen tanzten gelbe Flecken, weil er direkt in die Flamme gesehen hatte. Es stimmte, Ivar und ihn verband eine lange Freundschaft. Doch es gab etwas, das Ivar nicht erahnen konnte. Etwas, das Blair entschlossen machte, am Leben zu