Der tote Prinz. Katherina Ushachov
Damit sie, Elessa, ihr gefügig blieb.
Elessa hasste ihre Mutter von den hellgelben Spitzen ihrer Haare bis zu den schwarzen Plastikspitzen an ihren protzigen Schuhen. Eine Mutter, deren Blick aus merkwürdig rostroten Augen sie bis in ihre Alpträume verfolgte.
»Komm, Elessa. Gehen wir zum Dampfmobil. Wir werden auf dem Weg nach Acniv einiges zu besprechen haben.«
Elessa schluckte. Sie hatte keine Wahl. Sie hatte mitzukommen und sich anzuhören, was auch immer ihre Mutter zu sagen hatte.
Wenn sie ehrlich war, freute sie sich zumindest darauf, mit dem Dampfmobil zu fahren. Selbst wenn sie dafür die Gesellschaft ihrer Mutter ertragen musste, war es doch die einzige Möglichkeit, Dotar-Schloss zu verlassen und Dotar-Stadt zu erblicken, ohne ihr Gesichtsfeld durch Schutzmaßnahmen einzuschränken oder auf das Gebiet der Müllberge beschränkt zu sein.
Sie konnte sich die Stadt ansehen, die sie als Tochter einer Warlady so nie betreten durfte. Nicht, dass der Anblick sonderlich schön wäre.
Graue Betonwüsten, die Fassaden löchrig vom sauren Regen. Aus einigen ragte das Metall heraus und manche waren notdürftig mit Scheiben aus Sicherheitsglas abgedeckt – die Häuser von Menschen, die fast so reich wie ihre Mutter waren oder für das Überleben aller so wichtig waren, dass sie nicht in sich zusammenfallen durften. Die Plastikraffinerie, die Recyclinganlage aber auch die Gewächshäuser mit den wenigen Pflanzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Die Hallen mit den kleinen Beständen an Nutztieren.
Selbst die, die reich waren, hatten in dieser Welt so gut wie nichts. Etwas, was Elessa sich immer wieder bewusst zu machen versuchte, wenn sie die Geschenke ihrer Mutter als Bestechungen auffasste. Und doch …
Sie warf ihr Seitenblicke zu, wie sie, obwohl niemand sie sehen konnte, sehr gerade in den Sitzkissen saß und sich kaum bewegte. Die sorgfältig frisierten Haare wippten bei jedem Schlagloch, doch sie selbst zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Dann wieder war die Landschaft interessanter als das altbekannte Gesicht der eigenen Mutter und Elessa starrte nach draußen. Dort trottete gerade eine Gruppe Müllsammler ohne Mundschutz oder Helm, ohne Rüstung, hinter einer Obersammlerin her, auf dem Weg zu einem der vielen Müllberge in und um Dotar-Stadt.
Müll.
Das war das einzige, was sie im Überfluss besaßen. Das, wovon sie lebten. Die Abfälle ihrer Vorfahren, überschattet von einem diesigen Nebel, der eine Mischung aus saurem Tau und Asche auf den Gebäuden hinterließ. Trotzdem wollte sie weiter aus dem Fenster schauen. So viel wie möglich sehen und ihre Gedanken in die trostlose Landschaft schicken.
Ihre Mutter drehte an der Kurbel im Inneren des Wagens und verdunkelte die Scheibe.
Elessa sah im milchigtrüben Licht des Morgens nur noch grauschwarze Schlieren. Sie zwang sich, nicht zu auffällig zu seufzen und ihre Mutter nicht zu giftig anzusehen. »Worüber wolltest du mit mir sprechen?«
»Zunächst habe ich ein Geschenk für dich.« Sie schenkte Elessa ihr breitestes Lächeln, ehe sie ihre Plastiktasche öffnete und Elessa ein kleines Kästchen übergab.
Ein Bestechungsversuch. Schon wieder. Elessa wusste genau, was die vergifteten Geschenke ihrer Mutter bedeuteten. Nichts Gutes. Dennoch konnte sie nicht widerstehen und streckte die Hand nach der kühlen Plastikkiste aus und öffnete sie vorsichtig. »Eine Brosche.«
Nicht irgendeine, sondern die schönste, die Elessa je gesehen hatte. Im Licht der Autolampen erkannte sie, dass das kleine Quadrat aus perfektem, durchsichtigen Resin war, ohne Farben, ohne Eintrübung. Ein Stück Plastik, das in dieser reinen Form ein Vermögen gekostet haben musste. In seinem Inneren schwebte ein winziges Zahnrad aus blank poliertem Kupfer, wie eine Schneeflocke aus Sonnenschein.
»Steck es dir an. Oder warte …« Ihre Mutter stand auf, ging einige Schritte zu ihr hin und steckte das Kunstwerk an ihr Haarband.
»Danke. Es ist wunderschön.« Sie hatte es gesagt und damit angenommen. Also musste sie tun, was ihre Mutter im Ausgleich fordern würde.
»Du bist fünfzehn Jahre alt. Schon fast erwachsen. Damit kannst du in einem gewissen Rahmen agieren und dich in den Dienst der Familie stellen. Nun, ich brauche deine Hilfe.« Sie setzte sich wieder an ihren Platz und schlug die Beine übereinander.
»Wie kann ich dir zu Diensten sein?« Elessa hasste diesen Satz so sehr, dass es körperlich schmerzte, ihn auszusprechen.
»Du wirst dich benehmen, solange man mich sieht. Dich nicht blamieren. Nicht sprechen, außer du wirst gefragt.« Ein Funkeln trat in die rostroten Augen ihrer Mutter. »Aber du bist noch ein kleines, drahtiges Mädchen und wenn du durch Lue-Schloss streifst, wird niemand sich etwas denken. Erkunde also das Schloss. Erzähl mir alles, was du herausfindest.«
Spionage also.
Elessa ballte die Hände zu Fäusten. »Ja, Mutter.«
2. Aino
Von der Müllsammlerin zur Warlady.
Aino starrte an ihrer Tochter vorbei auf die Plastikscheibe, hinter der die zwei Fahrer des Dampfmobils saßen. Sie alle hatten dunkle Haare und dunkle Haut. Elessa, mit den dunkelroten Haaren und dem hellbraunen Teint, würde in ein paar Jahren als Schönheit gelten. Sie müsste nur aus der schlaksigen Phase herauswachsen und beim Kampftraining ein paar Muskeln aufbauen.
Aino dagegen war hässlich. Nie würden Dinge ihr einfach wegen ihres guten Aussehens in den Schoß fallen, sie musste immer mit all ihrer Schläue und einer antrainierten Skrupellosigkeit der Welt ihren Anteil abtrotzen.
Sie war noch klein gewesen, als die große Dunkelheit begonnen hatte, die Welt mit Schnee und Asche zu überziehen. Ein Kind, als ihre Familie auf der Flucht vor dem unerbittlichen Eis im Mittelland landete. Trotzdem war sie in diesem fremden Land nicht willkommen gewesen. In einem Land, in dem man es ihr auf den ersten Blick ansah, dass sie zu den Geflüchteten gehörte, zu den Gehetzten und Vertriebenen, die sich in den ohnehin berstenden Großstädten Mittellands drängten und stundenlang anstanden für wenigstens etwas Arbeit, wenigstens etwas Nahrung.
Aber wo sollte in einer Welt Nahrung herkommen, in der kaum noch etwas wachsen konnte? Woher Arbeit, wenn die Versorgung mit Energie auf einen Schlag zusammengebrochen war, sodass die meisten Maschinen stillstanden? Aino wusste nicht einmal