Linders Liste. Peter Schmidt

Linders Liste - Peter Schmidt


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Vorwegnahme jener tropischen Sonne, die er später in fernen Gefilden fand. Sein Fernweh war also therapeutisch gesehen durchaus vertretbar.

      Ich sah meine Eltern noch drei- oder viermal wieder in meinem Leben. Sie betrachteten meine Arbeit mit Wohlwollen. „Gelber Flachs“ muss ihnen gut gefallen haben, vor allen Dingen die Stelle, wo der Mörder Spekulationen darüber anstellt, in welchen Teilen der Welt er seine Autorentantiemen durchbringen könnte.

      Aber von den perversen Neigungen meines Erziehers oder der fehlenden Fürsorglichkeit meiner Eltern Beziehungen herstellen zu wollen zu meinem eigenen sexuellen Steckenpferd erscheint mir doch etwas gewagt …

      Zugegeben, Sie sind die Expertin, gnädige Frau …

      Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang etwas gestehen, über das ich nur höchst ungern rede. Zumal einer Frau gegenüber, denn es dient sicher nicht dazu, mich in der Rolle des Bewerbers besonders attraktiv erscheinen zu lassen.

      Gewöhnlich schreibt man Beschäftigungen wie mein Steckenpferd ja ausnahmslos dem Streben nach Lust zu:

      Triebhaft den sexuellen Gefühlen verfallen gleich einer Ratte im Labor, der man Elektroden ins Lustzentrum des Gehirns gepflanzt hat und die nun eine Million mal am Tage den Hebel zieht, um einen stimulierenden Stromstoß auszulösen.

      Aber vergessen Sie nicht, was ich über die Größe meiner Prostata gesagt habe. In gesundem Zustand gleicht sie einer Kastanie. Dagegen nimmt sich ein Golfball (ihr gegenwärtiges Format) fast wie ein Kürbiskopf neben einer Erdbeere aus.

      Ich übertreibe …? Ja, zugegeben – aber genauso fühlt sie sich an.

      Sie drückt auf die Blase, und das führt dazu, dass man tröpfelt, wenn man dicht bleiben will, und keinen einzigen Tropfen Harn lassen kann, wenn man‘s darauf anlegt.

      Ahnen Sie, verehrte gnädige Frau, welches Mittel sich als verblüffend wirksam entpuppte, um mich ein paar Stunden von diesem grässlichen Leiden zu befreien?

      Ganz recht, es war jene unschuldige Berührung in U-Bahnen und Bussen, in Straßenbahnen und Zügen, auf den Jahrmärkten und in vollen Kaufhäusern.

      Irgendein geheimnisvoller psychologischer Mechanismus (womöglich die Allgegenwart der Liebe) bewirkte, dass sich meine Verkrampfungen lösten und ich mich wieder wie ein ganz normaler Mensch erleichtern konnte.

      Erst viele Jahre später habe ich ein noch viel wirksameres und vor allen Dingen länger anhaltendes Mittel dagegen entdeckt … aber das tut hier nichts zur Sache.

      Es ist wieder einmal meine fast schon zwanghafte Ehrlichkeit, die mich zwingt, so offen zu Ihnen zu sein.

      5

      Ein Kapitel aus meiner Jugend sollte nicht unerwähnt bleiben, denn es könnte dazu dienen, viel tieferen Einblick in die Seele des Schriftstellers und Dichters zu geben als jeder trockene biographische Bericht, jede bloße Aufzählung von Lebensdaten.

      Lassen wir die entscheidenden Augenblicke selbst zu Worte kommen!

      Eines Tages fand ich meinen Onkel erhängt im Walde.

      Ich war auf dem Wege, mich mit einer zweibändigen Neuausgabe von Groß / Geerds „Handbuch der Kriminalistik“ ins Unterholz zu verdrücken (geradeso wie ein verliebtes Paar sich einen ruhigen Flecken sonnenbeschienenen Nadelbodens für sein Stelldichein sucht).

      Er hatte eine stämmige Eiche für sein Vorhaben ausgewählt, einen oberschenkeldicken Ast, über den zwei flachsgelbe Seile von der Stärke meines Handgelenks geworfen waren (warum gleich zwei? Nun, ganz einfach: Bei den entscheidenden Dingen ging er gerne auf Nummer Sicher).

      Mein Onkel hing da, wo der Wald tief und hoch und besonders dunkel ist …

      Man erkannte kaum noch, dass er seinen besten Sonntagsanzug trug. In seinem Knopfloch steckte eine rote Rose, das Symbol der Liebe und der Liebenden.

      Auf dem bemoosten Boden unter seinen sanft im Winde baumelnden Füßen lag ein zugeklebter Umschlag ohne Adresse. Sein Abschiedsbrief, kein Zweifel. Darin fand ich zu meinem nicht geringen Erstaunen ein Geständnis zu Papier gebracht, wie ich es dieser liebenden Seele selbst in meinen kühnsten Träumen niemals zugetraut hätte:

      Der elfjährige Sohn seiner Hauswirtschafterin hatte es ihm angetan!

      Mein Onkel verzehrte sich in unerwiderter Liebe zu ihm …

      Ich entsinne mich noch deutlich jenes rotznäsigen, leicht schielenden Knaben, dessen Hosentaschen immer mit Glasmurmeln, Sicherheitsnadeln, schmutzigen Taschentüchern und Bindfaden angefüllt waren.

      Er trug zwei Scheitel – zwei Scheitel, hochverehrte Frau Doktor, die auf jeder Seite seines Schädels wie fettige schwarze, in die Kopfhaut geschnittene Filzbahnen auseinander klafften.

      Gewöhnlich gingen wir uns aus dem Wege, denn eine unüberwindliche Abneigung hinderte uns vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft daran, mehr als zwei oder drei Worte miteinander zu wechseln. Es war, als spüre jeder sofort die tiefe Verschiedenheit unserer Existenz.

      Er brachte nicht mehr als ein Gestammel heraus, wenn er bei Tisch gefragt wurde. Meine Eloquenz dagegen war schon damals im ganzen Ort gerühmt.

      Die alten Militaristen in der Pension nannten ihn nur den „tumben Ziegenjäger“, denn sein Zeitvertreib bestand hauptsächlich darin, mit rostigen Sicherheitsnadeln und langen Fäden irgendwelche trickreich ersonnenen Sicherheitsleinen zu konstruieren, die das arme Vieh daran hinderten, sich frei im Gelände zu bewegen. Mein Onkel wurde trotz dieses grausamen Hangs nie müde, seine Vorzüge zu preisen.

      Das alles wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, hätte seine unerwiderte Liebe sich nur damit begnügt, ein Torso zu bleiben.

      Aber sein verrückter Drang brachte ihn dazu, sich selbst wie eine Ziege im Gelände zu bewegen, auf dass er sich in den ausgelegten Stricken verfange und von dem seltsamen Knaben gefunden und befreit werde. Dann wollte er die Gelegenheit nutzen und, notfalls mit Gewalt, sein Recht auf körperliche Befriedigung einfordern.

      Dieser Gedanke muss sich zur wahren Obsession ausgewachsen haben, unter der er mehr litt, als ein einziger Mensch ertragen kann.

      Die eine Seite seines Wesens hinderte ihn mit dem Appell an seine Klugheit daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen, die andere beschwor ihn fast täglich, es doch wenigstens zu versuchen …

      Wenig später siegte seine Rechtschaffenheit: Er nahm den nächsten Bus zur Stadt, arrangierte ein Stelldichein mit einer stadtbekannten Nürnberger Prostituierten und gedachte das als Auftakt zu einem Leben in der Heterosexualität zu betrachten.

      Kein Anschleichen von ganzen Schulklassen betörend schöner Knaben mehr; keine durchwachten Nächte, in denen ihn unerfüllbare Wünsche plagten. Der Hauswirtschafterin und Mutter des „tumben Ziegenjägers“ hatte er noch am selben Tage per Eilboten die Kündigung geschickt: Aus den Augen, aus dem Sinn …

      Als Expertin für solche Fragen ahnen Sie natürlich, in welchem Debakel sein Versuch endete.

      Er versagte kläglich. Vermutlich war er weniger bei der Sache, als sich selber seine Männlichkeit zu beweisen.

      Der Spott des Weibsbilds, ihr Hohn und Gelächter, trieb ihn in seiner Scham und anschließenden Raserei schließlich dazu, sie mit ihrem eigenen Strumpfhalter zu erwürgen, eines jener roten Spitzendinger, die in der Vorstellung mancher Frauen die Kerle zu sexuellen Höchstleistungen treiben können – und hier finden wir nun auch die Aufklärung jenes mysteriösen Verbrechens, das Nürnberg einige Wochen lang in Atem hielt und noch heute als ungelöster Fall in den Polizeiarchiven sein verstaubtes Aktendasein führt.

      Da man die Veranlagung meines Onkels kannte, war er völlig unverdächtig.

      Er benutzte die Hintertreppe zu einem stillgelegten Schlachthof. Das Mädchen, das mit dem Opfer in derselben Wohnung lebte, ahnte nicht, was nebenan vorging (über Freier pflegt man in diesem Gewerbe nur selten zu reden: so wenig wie


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