Linders Liste. Peter Schmidt

Linders Liste - Peter Schmidt


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Nacht aus.

      Ich habe mich nie dazu durchringen können, jenen Brief an die Behörden weiterzuleiten …

      Als ich meinen Onkel so baumeln sah – mit wirren Haaren, die blaurote Zunge zwischen den Zähnen – fand ich, er sei genug bestraft und müsse nicht auch noch als Mörder in die Annalen unserer Familiengeschichte eingehen.

      Doch in meiner jugendlichen Seele hinterließ dieser Einblick in die gegensätzlichen Kräfte der Psyche – das Spiel der abstrusen Gelüste, Einfälle und Widerstände – so viel nachhaltigen Eindruck, dass mich fortan nichts so sehr interessierte, wie mein Wissen durch weitere Einzelbeobachtungen zu vertiefen und ihr Ergebnis in literarisch gültiger Form zu Papier zu bringen.

      6

      Hochverehrte Frau Doktor! Eben hat mir mein Anwalt die neuesten Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in die Zelle gereicht.

      Welch ein grandioser Justizirrtum zeichnet sich hier ab!

      Nach seiner Überzeugung – er spricht es nicht so aus, aber man spürt es aus jedem seiner Winkelzüge wie den kalten Atem Sibiriens – sind Autoren, und erst recht die Vertreter meines Genres, zutiefst lügenhaft.

      Es sei ein notwendiger Zug ihres Charakters, den Dingen immer eine unwahre Wendung zu geben. Schon das Bedürfnis, in anderer Leute Bluttaten herumzustochern und womöglich noch neue hinzuzuerfinden, spreche für ein rauschhaftes Erlebnis, eine uneingestandene Lust an der Gewalt. Ich glaube, er denkt, wir seien allesamt verhinderte Verbrecher und Mörder.

      Welche makabre Lust könnte mich sonst dazu verleitet haben, ausgerechnet den Verleger Alexander Bernstein, jene wegen seines mutigen Eintretens für die Menschenrechte international angesehene Persönlichkeit, genau in jenem Moment aus der eisernen Deckengerüstkonstruktion des Speisesaales ins kalte Büfett stürzen zu lassen, als der Bürgermeister sein Sektglas zum Toast erhob?

      Und welche Indizien führt er dafür an? Nichts weiter als die getreuliche Beschreibung seines Todes in meinem letzten, noch unveröffentlichten Roman …

      Fanden sich auf Bernsteins goldenen Manschettenknöpfen etwa meine Fingerabdrücke? – Höchstens die seiner Sekretärin, denn am Abend in der Hotelbar hatte sie nichts anderes im Sinn, als ihm mit ihren langen, spitzen Fingern in den Ärmelausschnitt zu fahren (während die perlmutterfarbenen Nägel der anderen Hand seine behaarte Brust bearbeiteten). Hing zum Beispiel ein Schild an seinem Hals: Dies ist Linders erbarmungslose Rache für ein ungelesenes Romanmanuskript?

      Oder hauchte er, ehe seine Seele endgültig entfleuchte, mit letzter Kraft meinen Namen in die Mayonnaise?

      Nichts von alledem! Was verleitet diesen gemeingefährlichen Staatsbeamten, der in wenigen Monaten unbeschwert seine Pension genießen könnte, nur dazu, so gewagte Behauptungen aufzustellen?

      Ich habe eine literarische Vorlage geliefert, nicht mehr.

      Das Manuskript war in genau acht Exemplaren verbreitet, jeder Verleger bekam eines. Einer von ihnen vergaß es (gleichgültig und gewissenlos, wie diese Burschen nun einmal damit umgehen) auf dem Herrenpissoir – und so gelangte ein Exemplar in die Hände des Mörders.

      Das habe ich nun wahrhaftig oft genug zu Protokoll gegeben.

      Kehren wir lieber an die romantischen Ufer des Ottawa River zurück, wo ich mit Slauters lange Nächte darüber diskutierte, was es den Herren Kritikern (und hier in Frankfurt offenbar auch den Herren Staatsanwälten und Richtern) so leicht macht, eine x-beliebige dichterische Äußerung gleich als autobiographisch anzusehen. Es mangelt ihnen anscheinend an Phantasie. Und so finden sie den Ursprung jeder Beschreibung zwangsläufig in der Realität. Wir sind „Abschilderer“. Aus einer einzigen Erzählung kann man mit neunundneunzigprozentiger Gewissheit auf unseren (beklagenswerten) Charakter schließen.

      Ich weiß schon, was Sie darauf erwidern werden:

      Man hat Sie nicht beauftragt, die Schuldfrage zu klären, das ist ganz und gar Aufgabe dieser phantasielosen Stümper, sondern einzig und allein darüber zu entscheiden, wie es nach der entsetzlichen Bluttat – gleich sieben prominente Verleger während einer einzigen Buchmesse, und dazu noch alle im selben Hotel – wann hat es das schon einmal gegeben? – um meinen Verstand bestellt sei. Heilanstalt oder Gefängnis … ja, ja, ich weiß.

      Gestatten Sie mir, dass ich trotzdem kein Blatt vor den Mund nehme?

      Selbst auf die Gefahr hin, dass es mich belasten könnte:

      Ein großer Verlust für die Literatur sind sie nicht. Ich habe alle persönlich gekannt und – zugegeben – wegen meiner Manuskripte mit ihnen in Verhandlungen gestanden. Was man so Verhandlungen nennt!

      Es war eher ein Monolog. Alle diese an und für sich so umgänglichen, immer freundlich lächelnden Wesen aus dem Druckgewerbe haben eines gemeinsam:

      Sie lesen nur noch, wenn es sich nicht mehr umgehen lässt.

      Sie lesen Bilanzen, Programme konkurrierender Verlage, die Tageszeitung, die Speisekarte des Hotelrestaurants, die Liebesbriefe ihrer Sekretärinnen – nur ein unvergleichliches Meisterwerk wie „Linders Liste“ (der Titel jenes Manuskripts, das der Mörder als Gebrauchsanleitung benutzte) musste ihnen notwendigerweise verborgen bleiben, denn es umfasst zweihundertachtzig Seiten – zweihundertachtzig … lassen Sie sich die Zahl nur ruhig auf der Zunge zergehen! Dann werden Sie vielleicht ermessen können, wie viel Leseschwäche in einen Topf geworfen werden musste, um auch nur ein Drittel oder die Hälfte davon mit befriedigendem Abschluss an jene Stelle im Gehirn zu transportieren, die für das Verständnis zuständig ist.

      Aber diagnostizieren Sie deswegen bitte nicht gleich meinen tiefen Hass auf die Verlegergemeinde.

      Nein, bewahre, sie lässt mich völlig kalt. Soll sie in Frieden ruhen, verehrte Frau Doktor. Niemand wird ihrer Totenruhe etwas anhaben wollen.

      7

      Im Alter von neun Jahren betrat ich eine Buchhandlung und sah zum ersten Mal eines jener neumodischen Werke, die als Literatur bezeichnet werden. Ich habe viele Wochen meines Lebens damit vergeudet, mich von dem magischen Eindruck zu befreien, mit dem sie gewisse versponnene und ihrer selbst unsichere Geister in den Bann zu schlagen pflegt.

      Das seltsame Treiben, dem diese armen Menschen frönen, nennt sich „Dichtung“.

      Niemand weiß so recht, was es ist, aber es fluktuiert auf irgendeine Weise zwischen den Zeilen – in etwa vergleichbar den auf- und niederschwappenden Wellen an einer öligen Kaimauer – und ungefähr genauso sinnvoll …

      Wie gesagt brauchte ich lange Zeit, um das Rätsel jener hohen Bücherstapel zu lösen. Sie sind weder zum Zwecke der Unterhaltung noch aus sonst einem ernst zu nehmenden Grunde abgefasst (außer der Eitelkeit des Autors und dem Opportunismus des Verlegers natürlich, der die zufällig herrschende Wertrangordnung so sehr verinnerlicht hat, dass er seine Ehrerbietung auch einer Rolle Toilettenpapier darbringen würde, wäre sie nur als literarisch bedeutsam im Gespräch).

      Alles, was sie auszeichnet, ist eine gewisse Sprachartistik – sieht man von ihren nicht enden wollenden Wehen der Seele ab, die sich offenbar geniert, mit den Dingen der Welt zu intim zu werden, und unter diesem Eindruck ein fürchterlich feinsinniges Auf und Ab der Gefühle und Stimmungen veranstaltet – amüsant zwar, aber für nie mehr als acht bis zehn Seiten gut.

      Wer isst schon unentwegt die gleiche Sorte Nachtisch?

      Mein schicksalhafter Eintritt in die Welt der Literatur hätte mich fast vom wahren Wege abgebracht, wäre an dieser Stelle meines Lebens – wie von einem wohlmeinenden Gott platziert – nicht ein echter Verbrecher aufgetaucht.

      Ich meine: keine bloß seinen Lüsten verfallene Vogelscheuche wie mein Onkel Adalbert.

      Gnädige Frau! Es ist kein krimineller Hang, wenn ich ihn in den höchsten Tönen preise! Ein wahrer Mensch! Stark im Fleische und


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