Die Baumeisterin. Barbara Goldstein

Die Baumeisterin - Barbara Goldstein


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von mir. Sethi war zuständig für den Lehrgang zum Priester Ersten Grades, nicht für den Ausbildungsgang zum Schreiber. Niuser war ein ehemaliger Minister in der Regierung von Huni, der sich nach der Thronbesteigung Seneferus in den Tempel zurückgezogen hatte.

      In der letzten Reihe nahm ich auf einer Schilfmatte Platz und legte mein Schreibbrett auf die Knie. Ich war die einzige Frau unter fast dreißig jungen Männern. Ich betrachtete sie, während Niuser über grammatikalische Feinheiten und offizielle Höflichkeitsfloskeln in Briefen an die Verwaltung referierte.

      Khai war wie ich fünfzehn Jahre alt. Ramses war sechzehn oder siebzehn, ein sehr attraktiver junger Mann. Neben mir saß Senenmut, der mir von Anfang an sympathisch war: Sein Lächeln konnte verzaubern.

      Ramses beugte sich zu mir herüber, als Niuser uns gerade den Rücken zuwandte, um mit Holzkohle etwas an die Tempelwand zu schreiben.

      »Was, bei Thot, willst du hier, Nefrit?«, flüsterte er.

      »Ich werde Schreiber.«

      »Du kannst nicht Schreiber werden! Du bist eine Frau: Verschwinde!«

      Ich war entsetzt über seine Worte. Fühlte er sich als Mann mir überlegen?

      »Du hast mich nicht verstanden, Ramses!«, klärte ich ihn auf. »Ich sagte nicht: Ich will Schreiber werden. Ich sagte: Ich werde Schreiber!«

      In der Mittagspause saß ich allein auf den Stufen, die zum Heiligen See hinunterführten. Die Jungen beratschlagten im Schatten des Tempels, wie sie mich loswerden konnten. Einerseits machte mir ihr Verhalten Angst, denn ich war allein, andererseits war ich stolz auf meinen Mut, es mit neunundzwanzig Jungen aufzunehmen, besonders jetzt, da sie sich offensichtlich gegen mich verbündeten. Als Senenmut zu mir herüberkam, wusste ich, dass sie noch einmal vernünftig mit mir reden wollten.

      »Überbringst du mir die Kriegserklärung?«, fragte ich ihn kaltblütig.

      »Wir sind der Meinung, dass du nicht Schreiber werden kannst.«

      »Und warum nicht?«

      »Weil du eine Frau bist.«

      Ich setzte die unbewegliche Maske auf, die ich bei Seneferu beobachtet hatte und die ich in den folgenden Jahren bis zur Perfektion beherrschen sollte. »Ja, und?« Ich sah ihm direkt in die Augen, als erwartete ich von ihm eine ausführliche Begründung.

      Er konnte meinem Blick nicht standhalten. »Frauen werden nicht Schreiber!«

      »Ich schon, Senenmut. Ich werde Schreiber!«

      »Das werden wir sehen!«

      Am Nachmittag saß ich allein in der letzten Reihe. Senenmut hockte sich auf der anderen Seite des Raumes auf den Boden, um Niusers Unterricht zu folgen. Niuser registrierte diesen Platzwechsel mit einem amüsierten Grinsen und fuhr mit seinem Unterricht fort.

      Den späten Nachmittag verbrachten die Schüler in einer Gruppenarbeit damit, ein Konzept zu erarbeiten für die Verteilung von Feldfrüchten und Getreide aus den Magazinen auf die Landbevölkerung im Umkreis von zwei Tagesmärschen. Es bildeten sich fünf Gruppen. Keine von ihnen wollte mich aufnehmen, und so löste ich meine Aufgabe, die meiner früheren Tätigkeit auf der Baustelle meines Vaters ähnelte, allein.

      Die Gruppen mussten ihre fertigen Pläne den anderen vorstellen. Die meisten Verteilungspläne dauerten aufgrund nicht organisierter Transportwege über vier Tage. Niuser kritisierte sehr sachlich und wies auf die Schwächen der verschiedenen erarbeiteten Lösungen hin.

      Als ich mich erhob und meine Ergebnisse vorstellen wollte, war die Unruhe in der Klasse so groß, dass ich meine eigenen Worte nicht verstehen konnte. Doch dann verschaffte mir Niuser die nötige Ruhe für meinen Vortrag: Meine Lieferungen erreichten die Bevölkerung innerhalb von zweieinhalb Tagen nach Verpackung, und Niuser war zufrieden, weil nicht eine einzige Melone verloren gegangen war.

      In der Klasse war es nach seiner abschließenden Bewertung still. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, und doch hatte ich das Gefühl, dass mich keiner meiner Mitschüler wirklich ansah. Sie sahen durch mich hindurch, wie man den Feind in der Schlacht ansieht, um seine Fähigkeiten und seine Gefährlichkeit abzuschätzen, ihm aber nicht ins Gesicht sieht, um selbst keine Angst zu bekommen.

      »Willst du mir etwas sagen?«, fragte ich ungeduldig. Während der Mahlzeit nach den Abendriten hatte sich Senenmut neben mich gesetzt und aß seinen Braten. Hin und wieder riss er von dem weißen Brot ab und tauchte das Stück in die fettige Sauce.

      »Ich bewundere dich, Nefrit«, gestand er leise.

      Ich war überrascht. Ich hatte mit einer verletzenden Bemerkung gerechnet, aber nicht mit einer Bezeugung seiner Anerkennung.

      »Du bist stärker als ich.«

      »Wie meinst du das?«

      »Vielleicht hast du es nicht bemerkt, aber sie verachten nicht nur dich.« Senenmut sah mich nicht an.

      Tatsächlich war es mir in meiner Konzentration auf meine Aufgaben nicht aufgefallen, dass Senenmut unter der Verhaltensweise der anderen Jungen litt. »Was tun sie dir an?«

      »Sie ignorieren mich, weil ich nicht so bin wie sie.« Senenmut zögerte. »Ich bin nicht an Mädchen interessiert.«

      »Na und? Du bist ein Jahr jünger als die anderen.«

      »Das meine ich nicht. Es ist so furchtbar schwierig, darüber zu sprechen, Nefrit! Die anderen sind verliebt in einige von den Mädchen der Tempelschule, und manche treffen sich mit ihnen …«

      »Das ist doch verboten!«

      »Ramses hat mich schon einige Male mitgenommen, aber ich ... Bei Hathor! Nefrit, ich habe mich in den Priester Sethi verliebt. Ich würde ihn gern treffen.«

      »Und liebt Sethi dich?«

      »Ich hoffe es! Er hat mich einmal auf eine besondere Art angelächelt. Aber ich habe keine Möglichkeit, mit ihm zu sprechen. Kannst du mir helfen, ihn zu treffen? Kannst du ihm eine Nachricht von mir überbringen?«

      »Du bist verrückt!«, sagte ich voller Überzeugung.

      »Das habe ich immer von dir behauptet, Nefrit! Ich werde dir immer dankbar sein, wenn du mir diesen Gefallen erweist.«

      Wenn ich gewusst hätte, welche Konsequenzen sich für mich aus diesem Gefallen ergeben würden … Ich hätte es trotzdem getan.

      Mein Schatten war nicht der einzige, der in jener Nacht zwischen den Säulen des Tempels umherirrte. Aus einigen der Kammern drang unterdrücktes Lachen, und so vermutete ich, dass Ramses und seine Freunde sich auf einem Eroberungsfeldzug auf der falschen Seite des Tempelareals befanden. Ich hielt Senenmuts Brief fest in der Hand und schlich zu den Kammern der Priester hinüber.

      Sethi schlief nicht, und ich war überrascht, als ich ihn in Schreiberhaltung auf dem Boden sitzen sah. Er war nicht minder verblüfft. »Nefrit, bei allen Göttern, was tust du zu dieser Nachtzeit außerhalb deiner Kammer? Verschwinde sofort, man darf dich hier nicht sehen.«

      »Ich habe eine Frage, die mich beschäftigt, Sethi. Hast du einen Augenblick Zeit für mich?«

      »Was quält dich, Nefrit?«

      »Darf ich mich setzen?«

      Sethi deutete auf die Schilfmatte neben sich, und ich nahm in Schreiberhaltung Platz. Seine Kammer war nur wenig größer als meine eigene. Eine Schlafmatte, eine Truhe und ein Klappstuhl waren die Einrichtung. An der Wand hingen an zwei Haken mehrere priesterliche Leinenschurze und Teile des Königsornats für die Riten. Auf der Truhe sah ich einen Bronzespiegel liegen, den ich zu gern betrachtet hätte.

      »Hast du Probleme bei deiner Ausbildung als Schreiber?«

      »Nein, Sethi, ich komme gut voran. Es ist nur …«

      »Akzeptieren dich deine Mitschüler?«

      »Mittlerweile habe ich mir ihren Respekt verdient, und Niuser unterstützt mich in meinem Wunsch, Schreiber zu werden.«


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