Die Baumeisterin. Barbara Goldstein
deinen Rat als Mann, nicht als Priester.« Mit diesen Worten legte ich meine Hand auf sein Knie. Ich war für Senenmuts Freundschaft zu jedem Opfer bereit.
»Meinen Rat als Mann?«, fragte Sethi und rückte einige Handbreit von mir ab. Meine Hand wischte er mit einer fahrigen Bewegung weg. »Was ist geschehen? Bist du verliebt?«
»Es geht nicht um mich, Sethi. Es geht um einen meiner Mitschüler.«
Ein Lächeln huschte über Sethis Lippen. »Ist er verliebt?«
»O ja, und wie! Er hat mir erzählt, dass er keine Nacht mehr schlafen kann. Er hat mich um Rat gefragt, aber ich habe ihm gesagt, dass ich in dieser Beziehung keine Erfahrungen habe. Deshalb wollte ich dich um Rat fragen. Als Mann.«
»Ich verstehe nicht, Nefrit.«
»Mein Freund möchte einen Rat, wie er sich der geliebten Person nähern soll.«
»Das kannst du ihm als Frau doch viel besser erläutern.«
»Mein Freund liebt keine Frau, sondern einen Priester. dich.«
»Mich?«
»Er hofft, dass auch du dich in ihn verliebt hast.«
Ich habe nie wieder einen Mann auf derart bezaubernde Weise erröten sehen wie Sethi. »Wer ist es?«, flüsterte er heiser.
»Senenmut.«
Als Sethi, den Blick abgewandt, über die Möglichkeiten nachdachte, die diese Beziehung für seine Stellung im Tempel sowie für die weitere Karriere von Senenmut bedeuten könnte, reichte ich ihm Senenmuts Brief. Sethi nahm ihn mit zitternden Händen entgegen, entfaltete ihn und las die poetischen Worte, die ich für Senenmut in meiner besten Schrift zu Papyrus gebracht hatte.
Die ersten Worte des Briefes las Sethi flüsternd vor, dann verloren sich seine Worte inmitten seiner Gedanken: »Mein Geliebter, diesen Brief wage ich auf ein Zeichen von dir zu schreiben, ein kleines Zeichen nur …«
Ich wartete einige Augenblicke, bis Sethi die Konsequenzen einer Liebesaffäre zwischen einem Priester und einem Tempelschüler bewusst geworden waren, und dann fragte ich: »Willst du Senenmut treffen?«
»Ja, ich werde ihn treffen. Aber nur, um ihm zu sagen, dass das völlig unmöglich ist!«
»Was soll ich Senenmut sagen?«
»Ich werde ihn morgen Nacht an der dem Hapi zugewandten Seite der Tempelmauer treffen, dort, wo die Statue der Sekhmet steht. Bitte richte ihm das aus!«
»Das werde ich tun.« Damit erhob ich mich und wünschte ihm eine gute Nacht. Ich war überzeugt davon, dass es die unruhigste Nacht seines Lebens werden würde.
»Was hat er gesagt?«, fragte mich Senenmut noch vor den Morgenriten. Er war so ungeduldig, dass er mir bis zu meiner Kammer entgegengekommen war.
»Er will dich treffen!« Was Sethi über eine mögliche Beziehung noch gesagt hatte, verschwieg ich. Die beiden Verliebten sollten ihr Schicksal selbst bestimmen.
»Wann?«
»Heute um Mitternacht an der Statue der Sekhmet.«
»Danke, Nefrit!« Dankbar rieb er seine Nase an meiner Wange.
Niusers Vortrag nach den Morgenriten referierte über die Landvermessung nach der Überschwemmung und die Steuerfestsetzung. Da ich durch meinen Vater über das Steuersystem bereits ausreichend informiert war, hatte ich Muße, Senenmut zu beobachten, der den ganzen Vormittag wie ein zappelnder Fisch auf dem Trocknen auf seiner Sitzmatte herumrutschte und geistesabwesend die Wände anstarrte.
Während der Mittagspause setzte er sich neben mich in den Schatten des Tempels, und wir aßen das Brot gemeinsam.
»Kannst du mich heute Abend begleiten, Nefrit?«
»Wozu?«, fragte ich kauend.
»Ich habe … ich bin ein wenig …«
»Aufgeregt?«, legte ich ihm das richtige Wort in den Mund.
»Ja«, gestand er mit entwaffnender Ehrlichkeit ein. Wie konnte ich seinem Wunsch nicht entsprechen?
Ich begleitete Senenmut zur verabredeten Stelle. Doch anstatt in meine Kammer zurückzukehren, versteckte ich mich zwischen den Säulen.
Sethi trat aus dem Schatten hinter der Sekhmet-Statue, als Senenmut sich näherte. Ich konnte nicht verstehen, was sie sich sagten. Aber Sethis Gestik entnahm ich, dass er Senenmut über die Konsequenzen einer Beziehung mit einem Gottesdiener aufklärte. Senenmut stand wie eine Statue vor ihm, bis Sethi fertig war. Dann sagte er ein paar Worte, auf die Sethi wiederum antwortete. Senenmut näherte sich dem Priester und nahm seine Hand, die er im Verlauf des Wortwechsels nicht mehr losließ. Sethis Gestik wurde immer weniger ablehnend, und schließlich sah ich die beiden ihre Nasen aneinander reiben. Senenmut schlang seine Arme um die Schultern des Priesters und küsste ihn auf die Lippen. Sethi antwortete ihm mit aller Leidenschaft. Dann gingen sie zusammen weg.
Nach den Morgenriten sah ich Senenmut wieder. Er war übermüdet und konnte kaum die Augen offen halten, aber er lächelte, als sei er von Hathor selbst geliebt worden. Den ganzen Vormittag träumte er neben mir in Niusers Unterricht. Ramses und Mektire tuschelten während des Vortrages und machten sich über ihn lustig.
In der Mittagspause setzte sich Senenmut neben mich und steckte mir eine Tonscherbe zu. »Danke wegen gestern Abend, Nefrit. Kannst du diesen Brief Sethi geben?«
Ich zog die Tonscherbe aus dem Ausschnitt meines Kleides und las sie in seiner Gegenwart. »Du bist verrückt, Senenmut! Das wird er niemals tun!«, sagte ich voller Überzeugung.
»Er hat es bereits getan. Gestern Nacht.«
Gegen Mitternacht stahl ich mich an der schlafenden Iya vorbei aus meiner Kammer und machte mich auf den Weg zu Sethi. Er war nicht überrascht, als ich den Vorhang seiner Kammer zurückschlug und eintrat. Wortlos reichte ich ihm Senenmuts Nachricht.
Sethi las die Scherbe und ging unruhig in seiner Kammer auf und ab, wie ein Löwe, der nach einem Ausweg aus seinem Käfig sucht. Dann setzte er sich, zog die Schreibplatte auf seine Knie und verfasste innerhalb von wenigen Augenblicken eine nicht minder poetische Antwort an seinen Geliebten.
Sethis und Senenmuts Affäre blieb mehr als sieben Monde unentdeckt, bis eines Nachts Ramses, der die Kammer mit Senenmut teilte, seinem Mitschüler durch den nächtlichen Tempel zu einem Treffen mit seinem Geliebten folgte.
Ramses konnte diese Neuigkeit nicht für sich behalten, und um seine eigenen schwachen Leistungen aufzubessern, erzählte er der Tempelverwaltung von seinen Beobachtungen. Am nächsten Tag fehlte Senenmut im Unterricht, und auch Sethi konnte ich nirgendwo finden.
Am selben Abend zog Sethi seine priesterliche Kleidung aus. Ich half Senenmut beim Packen. »Wohin wollt ihr gehen?«
»Wir wissen es noch nicht. Sethi hat eine Ausbildung als Schreiber, und ich stehe auch kurz vor meiner Abschlussprüfung.«
»Deine Karriere ist beendet.« Meine Worte waren taktlos, entsprachen aber der Wirklichkeit.
»Das weiß ich, Nefrit. Ich werde mich schon durchschlagen. Mein Geliebter ist mir wichtiger als meine Karriere.«
Zum Abschied küsste mich Senenmut, und ich erkannte, was Liebe bedeuten konnte. Ich dachte an meine eigene erste Beziehung zu Sekhem zurück. Wie lange war das her? Beinahe drei Jahre!
An jenem Abend verschwand Iya. Sie ging, als sie vermutete, dass ich eingeschlafen war. Als ich das Rascheln ihrer Schlafmatte hörte, horchte ich auf. Iya, die gewöhnlich nicht vor dem Morgengrauen aufwachte, erhob sich von ihrem Lager und beugte sich über mich, um sich zu vergewissern, dass ich schlief. Ich hielt die Augen geschlossen und atmete tief und ruhig. Iya verließ unsere Kammer und kehrte erst in der Morgendämmerung zurück.
Als sie sich auf ihre Schlafmatte gelegt hatte, drehte ich mich zu ihr um: »Wo warst du?«
»Das geht dich nichts an.«
»Hast