Die Baumeisterin. Barbara Goldstein
klang wie Schmatzen, wie Geräusche der Nahrungsaufnahme. Nun bekam ich es mit der Angst zu tun. War Ptah erwacht und nahm die Götterspeise zu sich? Meine Mitschülerinnen hatten berichtet, dass sie Ptah mit offenen Augen gesehen hatten, aber ich hatte ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, sie hätten gelogen, um geweiht zu werden.
Doch dann spürte ich, wie sich etwas neben mir bewegte. Irgendetwas streifte meine Hand und war dann verschwunden. War der Gott nachts in seinem Tempel unterwegs?
Was ich aus dem Allerheiligsten vernehmen konnte, waren Geräusche von jemandem, der aß und vom Opferwein trank. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Doch die Neugier siegte. Vorsichtig näherte ich mich dem Vorhang zum Allerheiligsten, den ich langsam zur Seite zog.
Ptah stand an seinem Platz und blickte mich geradezu vorwurfsvoll an, weil ich seine nächtliche Ruhe gestört hatte. Er trug wie üblich seine blaue Kappe, einen Leinenschurz, einen breiten Halsschmuck aus Türkis und Silber, den Iya ihm während der Abendriten umgelegt hatte, und seine Sandalen. Nichts war anders als sonst, nur die Geräusche …
Und dann entdeckte ich die Ratten auf den Opfertischen, die sich an Gänsebraten, Gemüse und Brot sowie an Bier und Dattelwein gütlich taten. Ich scheuchte die Tiere fort und ging zurück zu meiner Matte. Den Vorhang zum Allerheiligsten ließ ich offen, damit ich von meiner sitzenden Position aus den Gott betrachten konnte. Vielleicht war die Offenbarung leichter zu erreichen, wenn ich ihn ansah.
Es war unsinnig, auf dem kalten Steinboden in der Dunkelheit der großen Halle zu sitzen. Ich fror. Ich hatte Hunger und Durst. Im Schein der Öllampen nahm ich mir von den Früchten und vom Gänsebraten, welchen die Ratten in Ruhe gelassen hatten. Auch vom Dattelwein trank ich einige Schlucke. Vielleicht würde die Erleuchtung kommen, wenn ich nicht mehr so viel Angst hatte. Ich trank den Kelch leer, und mir wurde sehr warm. So warm, dass ich meine Kleidung ablegte und nackt auf den Gott wartete.
Er ließ mich nicht lange auf sich warten. Im Schlaf erschien er mir. Langsam stieg er hinunter von seiner Barke im Allerheiligsten, ganz in Gold und Blau gekleidet. Als er zu Boden hinabgeschwebt war, wurde sein Körper zu Fleisch und Blut. Ptah war ein Mann von großer Statur, gekleidet in einen gefalteten Leinenschurz und einen Halsschmuck, bestickt mit Edelsteinen. An den Füßen trug er weiße Sandalen. Solange ich sein Gesicht nicht sehen konnte, hatte er Ähnlichkeit mit Djedef. Doch als er ins Licht trat, um sich mir in meiner Nacktheit zu nähern, erkannte ich den Lebendigen Gott Seneferu.
In diesem Augenblick erwachte ich.
Vor den Morgenriten erschien der Priester und befreite mich aus dem Allerheiligsten. »Hattest du deine Offenbarung, Nefrit?«
»O ja. Ich habe den Gott gesehen.« Ich sagte ihm nicht, welchen Gott ich gesehen hatte.
In einer langwierigen Zeremonie weihte mich der Hohepriester zur Gottesdienerin. Die rituellen Handlungen dauerten fast zwei Stunden. Endlos kniete ich vor Ptah und legte meine priesterliche Reinigungsbeichte ab: »Ich habe nichts gegessen, was verboten ist. Ich habe keinen Menschen getötet. Ich habe keinem Menschen die Freiheit genommen. Ich habe nicht mit dem Mann einer anderen geschlafen …« Ich zögerte. Hatte ich das wirklich nicht? Iya und Djedef waren sich zwar versprochen, aber noch nicht verheiratet.
Seine Heiligkeit sah mich irritiert an, und ich fuhr mit der Beichte fort: »Ich habe nicht geflucht. Ich habe nicht gestohlen. Ich habe den Tempel nicht geschädigt …«
Ich zählte vor Ptah alle zweiundfünfzig Vergehen auf, die ich nicht begangen hatte, bevor mich der Hohepriester mit sich nahm, um mich zu salben, zu kleiden und zu belehren.
Den Abend verbrachte ich allein am Heiligen See und starrte in das unbewegte Wasser. In fünf Tagen würde ich an der Neujahrsprozession des Ptah teilnehmen. Mein drittes Jahr im Tempel begann.
Ich aß die Gottesspeise, die von den Abendriten übrig geblieben war, als ein Priester sich näherte. Er hatte seinen Schurz sehr eng gebunden und konnte nur kleine Schritte machen, als er den Heiligen See umrundete. Er hielt etwas in der Hand. Einen Brief.
Umständlich setzte er sich neben mich auf die Stufen, die zum See hinabführten. Er ordnete die Falten seines priesterlichen Leinenschurzes, bevor er sprach. »Nefrit, ich habe hier etwas für dich.«
»Was ist es?«, fragte ich kauend.
»Das will ich von dir wissen.«
»Wenn du es mir nicht zeigst, dann weiß ich nicht, was es ist.« Ich biss erneut in das Fladenbrot.
»Nefrit, nur weil du nun Gottesdienerin bist, kannst du dir nicht jeden Regelverstoß erlauben. Du bist oft genug geschlagen worden während deiner Ausbildung. Es gibt härtere Strafen als Schläge mit dem Rohrstock.«
Der Priester hob den Brief, den er in der Hand hielt. Als ich danach greifen wollte, zog er ihn weg. »Du weißt, von wem dieser Brief ist?«
»Nein, natürlich nicht. Wer sollte mir einen Brief schreiben?«
»Dein Geliebter, Nefrit.«
Ich hatte plötzlich keinen Hunger mehr. Wusste die Tempelverwaltung von Djedef? Ich war vorsichtig gewesen und hatte mich vergewissert, dass mir niemand folgte. War das Iyas Rache?
»Ich habe den Brief gelesen. Dein Geliebter schlägt dir ein Treffen vor. Er sei in wenigen Tagen in der Stadt und könne es nicht mehr erwarten, dich zu sehen.«
Ich verdammte Djedef wegen seiner Unvorsichtigkeit. Wie konnte er mir einen Brief schreiben, der von der Tempelverwaltung abgefangen werden würde? »Das muss ein Missverständnis sein. Ist der Brief vielleicht falsch adressiert?«
»Ich kenne nur eine Nefrit aus Tis, die hier ihre Ausbildung macht«, sagte der Priester. »Dein Geliebter muss ein wichtiger Mann sein. Mit eigenem Siegel.«
»Was dich offensichtlich nicht davon abhielt, es zu brechen.«
»Ich habe den Brief dieses Kamose gelesen.«
»Kamose?«, fragte ich und stellte die Schale mit den Bohnen auf die Stufen. »Hast du eben Kamose gesagt?«
»Ich dachte, du kennst die Namen deiner Liebhaber.«
Ich lachte, bis mir die Tränen in die Augen stiegen. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich den Priester in Kenntnis setzen konnte, dass jener Kamose nicht mein Liebhaber, sondern mein Vater war.
»Nefrit, bring deinem Vater bei, dass er seine Briefe nicht mit Geliebte Nefrit beginnt. Hat er als Königlicher Bauleiter denn keine formale Ausbildung zum Schreiber erhalten?«
Als ich allein war, las ich den Brief:
»Geliebte Nefrit, zwei Jahre sind vergangen, seit ich Dich in den Tempel brachte. Auf der Baustelle und in meinem Herzen hast Du eine Leere hinterlassen, die so groß war, dass selbst die Pyramide darin hätte versinken können. Ich habe mich derartig in meine Aufgaben vertieft und mich auf einen Streit mit Prinz Nefermaat eingelassen, dass ich kaum Zeit zum Schlafen fand, geschweige denn, Dir einen Brief zu schreiben.
Letztes Jahr erreichte mich die Entscheidung des Königs, seine Residenz aufzugeben und die Hauptstadt nach Mempi zu verlegen. Das Grabmal für Seneferu ist fast fertig. Wir errichten gerade die achte Stufe. Eine wunderbare Pyramide! Du solltest sie Dir ansehen.
Seneferu hat zu meinem Bedauern beschlossen, dass Pihuni als Hauptstadt seines Reiches ungeeignet ist und dass Mempi die Alte und Neue Hauptstadt sein soll. Das Grabmal ist ihm trotz der Änderung der Baupläne und des steileren Neigungswinkels noch zu klein. Er hat beschlossen, dass vor den Toren von Mempi eine weitere, größere Pyramide für ihn errichtet werden soll. Das ist Wahnsinn!
Seneferu hat mich zum Bauleiter der neuen Grabanlage berufen. Außerdem werde ich die Bauarbeiten in der ganzen Gegend von Mempi überwachen, unter anderem das Projekt des neuen Atum-Tempels, der in den nächsten beiden Jahren vollendet werden soll.
Nefrit, ich habe Dir so viel zu erzählen! Bitte sende mir eine Nachricht! Ich komme am Neujahrstag in Mempi an. Ich hoffe, Dich dort zu sehen. Ich liebe Dich. Kamose.«
Ich war glücklich, obwohl er sich nicht ein einziges