Die Baumeisterin. Barbara Goldstein

Die Baumeisterin - Barbara Goldstein


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mich zu sich, und ich setzte mich in Schreiberhaltung neben ihn.

      Mit der Schreibbinse malte er einen senkrechten Strich auf den Papyrus: »Eins.« Dann zog er daneben noch einen Strich: »Zwei.« Dann einen weiteren, und an seiner Stelle sagte ich: »Drei.« Unter zehn gerade Striche malte er einen Bogen wie ein Tor: »Das ist das Zeichen für zehn.« Zwei Bögen: »Zwanzig!« Unter die beiden Bögen zeichnete er eine Schleife: »Das ist das Zeichen für hundert. Ein solches Symbol ist genauso viel wie hundert Striche oder zehn Bögen.« Er schrieb ein kompliziertes Zeichen auf den Papyrus: »Tausend. Zehn Schleifen.« Dann malte er einen erhobenen Finger: »Zehntausend. Zehn von diesen Zeichen hier. Oder hundert von diesen hier. Oder tausend von diesen hier.« Dann schrieb er zwei erhobene Finger nebeneinander: »Zwanzigtausend. So viele Menschen arbeiten an der Pyramide.«

      »Sind das alle Menschen im Land Kemet?«

      »Nein, die letzte Steuerzählung ergab fast zwei Millionen. Hundertmal mehr als Arbeiter hier auf der Baustelle.«

      Nun setzte ich meine Erkundung des Lagers fort: Im Hafen legten die großen Lastbarken an, die Kupfer aus dem Sinai auf die Baustelle brachten. Die Werkzeugmacher schmolzen in ihren Schmieden, die nicht weit entfernt waren, das Kupfer ein und fertigten Bohrer und Meißel für die Steinbrucharbeiter. Aus der stromaufwärts gelegenen Stadt Jebu trafen Schiffsladungen voller Säcke mit Quarzsand ein, der zum Schleifen von Sandsteinquadern benötigt wurde.

      Vom Hafen aus führte eine Transportstraße zu den verschiedenen Werkstätten sowie zur großen Rampe am Fuß der Pyramide. Hinter der Baurampe waren große Brennöfen errichtet worden. Dort wurden Gefäße für die Bauarbeiter gefertigt: Bierkrüge, Schüsseln und Teller aus Ton. In der Nähe der Steinbrüche auf der anderen Seite der Baustelle fand ich mehrere Werkstätten, in denen die geschlagenen Steinquader behauen und geglättet wurden. Im weichen Wüstensand lagen viele scharfkantige Steinbruchstücke: Ich trug keine Sandalen, und so machte ich einen großen Bogen um dieses Gebiet. Hinter der Pyramide befanden sich die Lager für die Lebensmittel: Obst, Gemüse, Gerstenmehl und Fleisch – jeden Tag gab es für die Arbeiter der Pyramide eine Portion Fleisch. Kühe, Schafe und Ziegen grasten auf den durch Kanäle bewässerten Weiden.

      Der Duft von heißem Gerstenbrot führte mich zu den Bäckereien, die direkt am Fluss lagen. Von der Bäckerin Satamun ließ ich mir zeigen, wie Brotteig gemischt und geknetet und wie Brot gebacken wurde. Sie arbeitete an einem langen Tisch aus aufgemauerten Bruchsteinen. Hinter ihr brannte ein großes Kohlefeuer, in dem das Tongeschirr zum Backen der Brote erhitzt wurde. Dann legte Satamun die Fladen in die unteren Teller des Brotgeschirrs und bedeckte diese mit den im Feuer erhitzten Tondeckeln. Die Gefäße wurden in den Kohlen vergraben, bis die Brote fertig waren.

      »Wo kommst du her?«, fragte ich Satamun.

      »Ich stamme aus einem kleinen Fischerdorf am Meer.«

      Das Meer! Der Barkenkapitän, der meinen Vater und mich von Tis nach Mempi brachte, hatte mir vom Meer erzählt.

      »Ist das weit von hier?«, wollte ich wissen.

      Satamun lächelte. »Das Meer ist im Norden. Fünf oder sechs Tage auf dem Schiff den Hapi hinunter.«

      »Ich komme auch von weit her, aber aus dem Süden«, erklärte ich ihr. »Warum bist du hier? Hast du keine Arbeit dort, wo du herkommst?«

      »Doch, ich hatte Arbeit, aber ich bin hierher gekommen, weil ich dem König diese Pyramide bauen möchte.«

      »Aber du baust doch gar nicht. Du backst Brote.«

      »Ich kann keine Steine schlagen oder Schlitten ziehen. Aber ich kann Brot für die Arbeiter backen. Es ist eine Ehre, für den Lebendigen Gott arbeiten zu dürfen. Er wird keine Schwierigkeiten haben, Arbeitskräfte zu finden. Die meisten Arbeiter sind nur während der Flut hier, weil sie auf den überschwemmten Feldern ohnehin nicht arbeiten können. Sie entgehen den Seuchen und der Arbeitslosigkeit in ihren Dörfern, werden für ihre Arbeit an der Pyramide gut entlohnt und ihre Versorgung mit Brot, Fleisch und Gemüse ist gesichert. Wenn sie in ihre Dörfer zurückkehren, sind sie Helden, und abends am Feuer erzählen sie immer wieder, wie sie die Pyramide mit ihren Händen gebaut haben. Und jeden Abend wird die Pyramide in ihren Erzählungen höher und höher.«

      »Aber du bist eine Frau. dir werden sie nicht zuhören, wenn du von deiner Arbeit sprichst.«

      »Gut beobachtet, kleine Nefrit! Ich bin eine Frau. Und ich werde dir ein Geheimnis verraten: Eine Frau kann härter und ausdauernder arbeiten als jeder Mann.«

      Am nächsten Morgen stand mein Vater schon vor den ersten Strahlen des Sonnengottes Re auf, ging hinunter zum Fluss, um sich zu waschen, und kam dann mit einem Brotfladen und frischen süßen Zwiebeln zurück. Wir brachen das Brot gemeinsam, bevor Re den Horizont überstieg, dann verließ er mich.

      An diesem Tag erschienen viele neue Arbeiter aus dem Unteren Land. Am Tisch von Aperires Schreiber am Ende der Rampe bildete sich eine lange Reihe, wie Glasperlen auf einer Schnur. Es waren so viele, dass Aperire selbst zur Schreibbinse griff. Ich saß auf einem zerbrochenen Steinschlitten und zählte die neuen Arbeiter. Zuerst malte ich Striche und Bögen in den Sand, doch dann löschte ich die Zeichen aus und malte Schleifen. Am Abend waren es zwölf Schleifen, zwei Bögen und sieben Striche.

      Als Aperire sein Schreiberzelt verlassen wollte, um die Abendmahlzeit einzunehmen, sah er mich die Zeichen im Sand zählen.

      »Was zählst du, Nefrit? Eintausendzweihundertsiebenundzwanzig Sandkörner?«

      »Keine Sandkörner, sondern neue Arbeiter.« Während ich sprach, löschte ich die Zahlzeichen im Sand mit meinem Stock aus.

      »Du kannst schreiben, Nefrit?«, fragte er erstaunt. »Hast du diese Zahlzeichen in den Sand geschrieben?«

      »Du hast sie mich doch gelehrt: gestern.«

      »Du bist ein wirklich erstaunliches Kind, Nefrit. Wenn du Lust hast, kannst du mir morgen helfen. Ich habe eine Aufgabe für dich.«

      »Warum schreibst du all die Namen auf?«, fragte ich Aperire, als ich ihm eine neue Papyrusrolle reichte. Ich hockte neben ihm und sah ihm beim Schreiben zu.

      »Wir benutzen die Listen, um festzustellen, wer seinen Lohn schon erhalten hat und wer noch nicht. Hier in dieser Liste stehen die Namen der Arbeiter und dahinter die Menge des Kupfers, die Zahl der Kleidungsstücke, die Salben und das Natron, das sie als Lohn bekommen haben.«

      »Ich will schreiben lernen«, verkündete ich.

      Aperire lächelte: »Deshalb bist du hier, Nefrit.«

      Ein Arbeiter hieß Kamose, wie mein Vater: Korb – Eule – Türriegel. Der nächste hieß Meri: Eule – Mund. Die Arbeiter kamen aus dem ganzen Land und sprachen verschiedene Dialekte. Ich lernte von Aperire, dass auch mein Name unterschiedlich ausgesprochen wurde: Nofret, Neferet, Nefrit. Geschrieben wurde er aber jedes Mal gleich: N F R T.

      »Es ist seltsam, dass dein Name Nefrit ist«, sinnierte Aperire. »Der Name entstammt einem Dialekt des Unteren Landes. Du aber kommst aus der Gegend von Tis im Süden – im Oberen Land. Geheimnisvolle Nefrit!«

      Als mein Vater an diesem Abend nach Hause kam, saß ich vor der Hütte und malte mit dem Stock die Schriftzeichen meines Namens in den Sand. Er trat hinter mich und sah mir beim Schreiben zu.

      »Was malst du da?«, fragte er.

      »Ich schreibe«, korrigierte ich ihn.

      Er setzte sich neben mich und begann zu essen. Fladenbrot mit Rindfleisch und Erbsenpüree. »Was schreibst du?«

      »Kannst du das denn nicht lesen?«, fragte ich ihn.

      »Nein, Nefrit, ich kann nicht lesen.« Er sah mich nicht an, denn es war ihm wohl peinlich.

      Es tat mir Leid, dass ich ihm wehgetan hatte. Ich hatte nicht gewusst, dass er nicht lesen und schreiben konnte.

      »Kamose schreibt sich so.« Ich kritzelte die Zeichen in den Sand, die er sich durch einen langen Blick einprägte. »Und das hier heißt Dede.«


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