Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean
Kopf.
„Der geschätzte Schuster Rappen hat hingegen in diesem Jahr am falschen Ende gespart. Seine Schuhe waren mit weniger Fäden genäht als eine Kohlroulade beim Wirt Pint. Werter Rappen, es bringt dir nichts, wenn deine Freunde und Nachbarn ständig wegen Reparaturen zu dir kommen. Kurzfristig mag deine Kasse klingeln, aber du wirst nur die Preise aller Waren im Ort hochtreiben. Die Baumfäller können kaum barfuß in die Wälder, wie auch die Boten ungern barfuß die Briefe austragen. Möchtest du, dass die Zimmerleute sich Splitter laufen und nicht mehr arbeiten können?“
Rolo dachte an die armen Leute, die öffentlich angeprangert wurden und bestimmt auch hier zwischen ihren Freunden, Nachbarn und Familien saßen. Aber es erschien ihm auch sinnvoll und richtig, was die schwarze Frau zu sagen hatte. „Kommen wir nun zu den Geschäften des würdevollen Bürgermeisters Mocke. Nach dem stürmischen Beginn seiner jüngsten Amtszeit …“
Jemand zupfte Rolo am Ärmel. Er schaute sich verwundert um und sah Tinka. Oder Lana. Er konnte die beiden rothaarigen Mädchen, die auch noch fast das gleiche Kleid trugen, nicht unterscheiden. Der Blick ihrer klaren Augen ging ihm durch Mark und Bein. Um seine Verlegenheit zu überspielen, neigte er rasch den Kopf und brachte sein Ohr nah an ihren Mund. Mädchen waren ihm ein Rätsel, mit ihren Launen und ihrem seltsamen Gehabe. Ein Rätsel, dessen Lösung ihm der Mühe nicht wert schien. Warum dieser Moment ihn so kalt erwischte, wusste er nicht. Noch oft sollte er sich daran erinnern.
„Ist das nicht irre? Gefällt es dir hier?“, fragte sie.
„Ja, ist toll. Aber auch irgendwie abgefahren. Wer ist die?“ „Das ist nicht die, sondern die Bendith Geserith“, lachte das Mädchen. „Sie kommt einmal im Jahr und sieht nach dem Rechten. Da wird dann gelobt und viel gemeckert. Besonders habgierige Handwerker und Händler sind ihr ein Dorn im Auge. Jetzt geigt sie gerade dem Bürgermeister die Meinung.“
„Den Bürgermeister? Aber der ist doch das Oberhaupt der Stadt?“
„Klar, aber er ist auch ein gewählter Vertreter der Bürger. Da muss man ihn manchmal dran erinnern. Außerdem wird sie gleich berichten, was wir vom nächsten Jahr zu erwarten haben. Ich weiß genau, was du jetzt fragen willst. Ich weiß auch nicht, woher sie das alles weiß.“
„Abgefahren. Und das Gedicht, das ihr vorhin alle zusammen aufgesagt habt?“
„Gedicht? Du meinst die Losung. Das ist ein alter Vers. Wer den nicht kann, der ist nicht aus Neunseen. So konnte die Bendith Geserith früher herausfinden, ob sich keiner eingeschlichen hat, der hier nicht hingehört.“
„So wie ich. Hier gibt es viele seltsame Leute.“
„Findest du? Wo denn?“
„Na ja, eigentlich überall. Da gibt es diese langhaarigen Großen mit den Gewändern. So ein bisschen wie Karneval und Mittelaltermarkt.“
„Das kenn ich nicht. Aber ehrlich gesagt bist du der Einzige, der hier seltsam angezogen ist.“
Rolo entging ihr pikierter Ton nicht.
„Oh, nein, versteh mich nicht falsch. Ich finde es toll. Aber eben ganz anders als da, wo ich herkomme. Da tragen eben alle“ – er schaute an sich herab - „Jeans und T-Shirt.“
„Das ist aber ganz schön langweilig. Pst, jetzt kommt gleich der spannende Teil.“ Mit diesen Worten wandte sie sich von Rolo ab und gesellte sich zu einer Gruppe kichernder Mädchen.
Rolo seufzte und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Er vermied es, seinen Vater anzugucken, den er aus dem Augenwinkel breit grinsen sah. Rolo schaute verlegen zum Himmel rauf, nur um irgendwo hinzuschauen. Inzwischen war es dunkel, und keine Sterne waren zu sehen hinter dichten grauen Wolken. Leichter Regen setzte ein.
„So weit zum Rat der Stadt“, sagte die Bendith Geserith. „Wenden wir uns erfreulicheren Dingen zu. Bitte nehmt Platz, meine Freunde. Es war ein wundervoller früher Frühling nach einem sehr schneereichen Winter. Doch haben alle Dächer dem Schnee standgehalten. Leider haben die hungrigen Wölfe den Lämmern übel mitgespielt. Der Bürgermeister wird die Neolinga bitten, die Wolfsjagd im Sommer fortzusetzen, wenn die Welpen aus dem Gröbsten raus sind. So traurig das Töten von Tieren ist, ist es doch ein notwendiges Übel. Außerdem wird es den werten Herrn helfen, die verstaubten Knochen etwas auf Trab zu bringen.“
Die Menge lachte.
„Wir befinden uns seit so langer Zeit im Frieden, dass kaum noch jemand die Jahre zählt. Nicht immer waren die Neolinga nur zur Jagd da. Vergesst nicht, warum die Neolinga einst die Farralot von den Farindor übernommen haben. Nicht unerwähnt lassen möchte ich den unerschöpflichen Eifer unseres verehrten Schulleiters Adalar. Steh ruhig auf, mein Freund. Ich sehe dich doch.“
Weiter vorne erhob sich eine große Gestalt. Unter lautem Beifall verbeugte er sich. Bevor Rolo ihn richtig sehen konnte, hatte er sich wieder gesetzt.
„Die Farralot?“, wiederholte Rolo leise.
„Das ist die Schule“, flüsterte Onno.
„Schon immer war das Nachtschattental eine Insel, sagen die einen, eine Festung meinen die anderen. Wie auch immer, feststeht, dass wir mit den Konflikten der Welt nichts zu schaffen haben. Doch hört mir zu! Nicht ewig wird das so weitergehen. Öffnet euch für die Welt da draußen. Natürlich ist es mir viel wert, dass ihr die alten Traditionen noch am Leben erhaltet. Wäre ich sonst hier? Aber vergesst nicht, dass die Zeiten sich mehr als einmal gewandelt haben. Wenn Neunseen nicht die Tore öffnet, wird die Veränderung über uns hereinbrechen wie eine Flutwelle. Lasst lieber kleine Wellen hinein, die eine weniger zerstörerische Wirkung auf uns haben. Wir können die Zeit nicht aufhalten. Und wer sich ihr allzu lange widersetzt, dem wird sie die Beine wegziehen. Habt keine Angst. Es gibt viel Gutes da draußen. Nun zu den Gerüchten.“
Wieder wurde getuschelt.
„Ja, ich weiß, dass viele hier beunruhigt sind. Aber es sind nach wie vor nur Gerüchte. Wir wissen nicht, was des Nachts um den Spineus schleicht, wie die Älteren die Hecke nennen, die den Ort umspannt. Es könnten auch nur streunende Hunde sein. Und die angeblichen Fußspuren haben sich nach Überprüfung durch Meister Adalar als die Spuren des Entdeckers eben dieser Spuren erwiesen. Ich werde jetzt keine Namen nennen, um dem Betroffenen nicht noch mehr Schande zu bereiten.“
Rolo bemerkte, das Onno errötete.
„Dennoch begrüße ich es, dass ihr die Augen offen haltet. Hört gut zu! Ich sage euch, es wird Veränderungen geben! Bald! Doch sollten wir sie willkommen heißen wie lang entbehrte Freunde. Wie die Veränderungen sich auf unser aller Leben auswirken, kann ich jetzt nicht sagen. Doch solltet ihr nicht in starre Furcht verfallen. Wir sind eine starke Gemeinschaft, daran wird so leicht nichts etwas ändern. Und keiner wurde jemals fallen gelassen im Nachtschattental. Einige von euch wissen, wovon ich rede. Und die es jetzt nicht wissen, die geht es nichts an! Vertraut mir. Dies sind nicht die Zeiten für bierseliges Gewäsch. Lasst mich noch sagen, dass Vorsicht unser Begleiter sein soll im nächsten Jahr. Und ich meine damit nicht ungerechtfertigtes Misstrauen, Angst oder sogar Panik. Vorsicht ist das, was den Hasen vor dem Wolf bewahrt. Den panischen Hasen holt der Bussard, weil er zu viel Radau macht im Unterholz.“
Auch Rolo hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, wovon sie sprach. Aber es klang sehr spannend für ihn.
„Es freut mich besonders, heute zwei Besucher in unserer erlesenen Runde begrüßen zu können. Steht schon auf, ihr beiden.“
Rolo erschrak. Sein Vater zog ihn am Ellbogen hoch und stand selbst auf. Die Blicke unzähliger neugieriger Augen ruhten auf ihnen.
„Dies sind der ehrenwerte Gatte meiner Nichte Grellon und sein Sohn Roland. Ich bitte euch, sie willkommen zu heißen. Sie sind auf meine persönliche Einladung hier.“
Verhaltener Applaus. Die Blutguts setzten sich schnell wieder hin. Obwohl Rolo vom Nieselregen durchnässt war, wurde ihm sehr warm.
„Sie werden bestimmt jedem gern berichten von ihrem Heimatort Rabenstadt und dem Leben außerhalb des Nachtschattentals. Nutzt diese Chance. Kommen wir nun zu denen unter uns,