Der Sommer der Vergessenen. René Grandjean
aufhalten. Allerdings erwartete ihn dort die ungewisse Dunkelheit. Er rannte los. Aus der Ferne hörte er Sirenengeheul. Hilfe für die Verunglückten war nah. Was half es ihm. Die Gegenfahrbahn war immer noch zu stark befahren, um sie zu überqueren. Dann kam der Nebel. Er stieg aus der Fahrbahn auf, viel zu schnell, um natürlich zu sein. Tweed wurde nicht langsamer, lief einfach hinein. Geräusche klangen gedämpft in der feuchten Luft. Er sah kaum weiter als bis zu seiner Nasenspitze. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Er lief schneller. Der Nebel formte einen Tunnel.
Ich bin zu langsam, schoss es Tweed durch den Kopf. Er blieb stehen. Kampfbereit fletschte er die Zähne. Drei Irrlichter standen ihm gegenüber. Ihre Umhänge wehten, doch es ging kein Wind.
„Ihr seid nichts! Nur Nebel und Finsternis!“ Plötzlich fühlte er eine Berührung. Zwei Hände ergriffen seine Vorderläufe. Sie kamen aus der Straße unter ihm. Ohne zu zögern, trieb Tweed seine Zähne hinein. Doch sie ließen nicht los. Wild warf er sich hin und her, der Falle zu entgehen. Die Irrlichter kamen näher. Sie zogen Stäbe, die in ihren Händen um ein Vielfaches länger wurden. Schon traf Tweed der erste Hieb. Rasend vor Wut versuchte er, sich in den Stäben zu verbeißen. Die Irrlichter schlugen abwechselnd zu. Mit grausamer Präzision zerschnitt Schlag um Schlag die Luft. Plötzlich ließen sie von ihm ab, schauten ins Licht. Scheinwerfer näherten sich durch den Nebel.
Das ist eine Hinrichtung, dachte Tweed. Seine Sinne schwanden. Die Gewänder der Irrlichter verdunkelten die Sterne. Ein letztes Mal schlugen sie zu. Tweed jaulte und fiel auf die Seite. Die Hände ließen von ihm ab. Die Irrlichter duckten sich und versanken geräuschlos im Asphalt der Straße. Der Lichtkegel erfasste Tweeds reglosen Körper. „Nein, nein, halt! Das ist falsch, ganz falsch.“
Die Zeit fror ein. Motoren verstummten. Die Autos rollten langsam aus und kamen zum Stehen.
„Ich sagte den Irrlichtern, dass ich dich lebend brauche. Lebendig. Haben wohl den Unterschied vergessen zwischen Leben und Tod.“
Menschen stiegen aus ihren Wagen.
„Nein. Ihr nicht. Schlaft!“
Wie Marionetten mit durchtrennten Fäden brachen die Menschen zusammen. Gespenstische Ruhe trat ein. Im Nebel zeichnete sich eine Silhouette ab. Ein alter Mann kam die Straße entlang. Sein Gehstock klackerte rhythmisch auf dem Asphalt. Klein war er, ging gebeugt. Bei Tweeds reglosem Körper blieb er stehen.
„Du bist das“, staunte er. „Hätte nicht gedacht, dich noch mal zu sehen. Nach so langer Zeit.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das dünne weiße Haar. „Immer machst du Ärger. Manches ändert sich wohl nie.“ Er schaute in den Nachthimmel hinauf. „Nein, mein Freund. Manches ändert sich wohl nie.“ Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. „Auch wenn die ganze Welt aus den Fugen gerät. Wir sind, was wir sind. Aber nein, warte. Noch besser. Wir werden wieder sein, was wir waren! Und weißt du was, mein Freund? Es hat gerade erst begonnen.“ Zweimal pochte er mit seinem Gehstock auf die Straße, dann waren beide verschwunden.
Kapitel 9
Das Feuer war erloschen. Nur noch das Flackern der Glut spendete ein wenig Licht auf der kleinen Waldlichtung. Doch das brauchen Nachtalben nicht, um in der Dunkelheit zu sehen. Socke hatte die Schüssel auf den angewinkelten Beinen abgestellt. Er schöpfte etwas Suppe auf den Löffel, pustete, und schlürfte sie vorsichtig. Driftwood hatte seine Suppe direkt aus der kleinen Holzschüssel getrunken, die jetzt zu seinen Füßen lag. Er starrte abwesend in die Baumwipfel. Das Feuer beleuchtete nur einen Teil seines schwarzen Gesichtes. Die tanzenden Schatten verliehen ihm etwas Wehmütiges. Eine leichte Brise entfachte eine kleine Flamme in der Glut. Sie spiegelte sich in seinen Augen. Socke stellte seine karge Mahlzeit beiseite und legte seinem Gefährten die Pfote auf die Schulter. Driftwood schien es nicht zu bemerken. Doch dann klärte sich sein Blick. Er tätschelte Sockes Pfote und drehte sich um.
„Dackelkacke! Ich kann mich kein Stück erinnern.“
„Ach, Drift“, seufzte Socke. Seine Augen waren glasig. „Der verfluchte Rauch.“
Driftwood nickte.
„Meinst du, dass wirklich alle fort sind?“, fragte Socke. „Nun ja, um den einen oder anderen Trottel wäre es nicht so schade“, lachte Driftwood. Etwas leiser fuhr er fort, als er Sockes ernsten Blick bemerkte: „Sieh doch, wir waren wirklich lange weg. Und viel gesehen haben wir bisher auch nicht. Ich glaube, nein, ich bin mir sicher, dass es nicht alle erwischt hat. Wir waren viele, und viele waren schlau. Na gut, viele waren auch Idioten. Aber davon wiederum waren viele sehr kleine Idioten. Oder auch feige Idioten. Sie könnten sich versteckt haben. Na gut, dann sind sie bestimmt verhungert, aber immerhin.“ Driftwood schien seine Rede für sehr tröstlich zu halten. Er lächelte so freundlich, wie es ihm möglich war.
Socke schaute sehr betreten auf seine Füße.
„Wenn hier niemand mehr ist, dann nirgends“, murmelte er.
Driftwood schüttelte sich. „Alles nur wegen der Elben. Eine Schande ist das. Und eigentlich, ich meine, streng genommen hatten wir mit der ganzen Geschichte doch fast nichts zu tun. Leider etwas schwer zu erklären, wenn dich ein ganzes Dorf mit Mistgabeln verfolgt.“
Socke schauderte, als wäre ihm kalt. „Meinst du wirklich, sie sind alle tot? Auch die Halblinge? Und das ganze Nachtvolk?“
„Ich hab wirklich keine Ahnung. Aber die Halblangen waren ja auch ein Haufen von … .“
Sockes strenger Blick brachte Driftwood zum Schweigen. „Lass uns packen“, sagte er pikiert, nahm die Suppenschüssel vom Boden und verschwand im Unterholz in Richtung Fluss.
„Ach, Söckchen“, flüsterte Driftwood, als er allein war, „ich weiß doch auch nicht mehr als du.“ Er schaute in die dunklen Bäume hinauf, deren Laub sich wie schwarze Laken rauschend schüttelte. „Wir brauchen endlich mal ein paar Antworten!“ Mit einer Pfote griff er in den Pelz auf seiner Brust. Er zog einen eiförmigen Stein hervor. Was sagte der Meister noch? Dieser Stein ist voller Magusch. Zur rechten Zeit wird er euch den Weg weisen. Den Weg wohin? Was soll ich mit dem verfluchten …? Er holte weit aus, und wollte den Stein gerade ins Dickicht werfen, als plötzlich eine bekannte Stimme erklang.
„Driftwood.“
Driftwood ließ blitzschnell den Stein im Fell verschwinden.
„Meister? Seid Ihr das?“ Er schaute sich um.
„Ich bin hier unten.“
Driftwood sah, dass sich in der Glut des Lagerfeuers ein Gesicht andeutete. Die Augen waren glühende Holzkohlen.
„Ach ja, hehe, da seid Ihr ja. Wieso denn da? Wo wart Ihr denn den ganzen Frühling? Socke hat sich wirklich gesorgt.“
„Ich habe geruht. Eure Erweckung hat mich viel Kraft gekostet.“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Riesig, wie ich bin.“
„Ja, sicher. Wie ging es voran? Hast du was herausgefunden? Und wo ist Socke?“
„Äh, was meint Ihr?“
„Driftwood, meine Zeit ist knapp“, mahnte der Grüne, der jetzt gerade überhaupt nicht grün war.
„Ja, ja. Socke ist am Fluss.“
„Und?“
„Ich denke, er spült das Geschirr.“
„Driftwood!“
„Was denn? Ach so. Nein, bedauere, hab ich nicht.“
„Die Karten? Sie sollten dir helfen, dich zu erinnern.“
„Die Karten sind unnütz. Socke und ich haben das ganze Frühjahr die Berge und das Umland durchstreift. Ihr habt keine Ahnung, Meister – bei allem Respekt – wie es da draußen aussieht. Hier im Gebirge ist alles verlassen. Und jenseits der Berge ist nichts mehr, wie es war. Wo habt Ihr die Karten eigentlich die ganze Zeit versteckt?“
„Das geht dich nichts an. Dann beginnt die Suche hier.