Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern. Jürgen Ruszkowski
die Rettung unzähliger Treckfahrzeuge. Die südlich und westlich von Cammin auf den Straßen ziehenden Trecks sind wahrscheinlich abgeschnitten und werden von den russischen Panzern überrollt.
Es ist ein Verbrechen der verantwortlichen politischen Leitung, den Treckbefehl für den Kreis Cammin so spät gegeben zu haben. Fast der ganze Kreis Cammin südlich der Straße Groß-Justin-Granzow ist abgeschnitten.
Ein Melder meiner Volkssturmkompagnie kommt auf einem Fahrrad und meldet, dass sich der Viehtransport bei Kalkberg sammelt. Ich muss nach Kalkberg! Ich verabschiede mich von den Kameraden in Raddack. Lebt wohl! Gute Fahrt! Ein fester Händedruck mit Oberleutnant Werner. Ein Abschied, vielleicht für immer!
In Kalkberg ist die Stellung von einer Luftwaffentruppe besetzt. Hauptmann Kolsch erklärt mir die Lage. Auf dem Waldwege von Lüchenthin nach Kalkberg und am Strande entlang zurückflutende Truppen. Lettische Freiwillige und Versprengte verschiedener Truppenteile. Dazwischen Flüchtlinge zu Fuß und auf Fahrrädern aus den Ostseebädern Poberow, Horst, Rewahl, Deep. Verwundete und Frauen mit Rucksäcken und Koffern! Ein Bild des Jammers und Zusammenbruchs!
Unsere Viehherde, rund 1.000 Stück Rindvieh und Hunderte von Schafen nähert sich. Ich lasse sie von Kalkberg aus an den Ostseestrand treiben. Am Strand entlang sollen die Tiere bis nach Dievenow, und dort über die Brücke zum Flughafen hinübergetrieben werden.
Ich fahre mit dem Wagen nach Dievenow voraus, um den Übergang über die Brücke vorzubereiten. Vor der Brücke ist ein furchtbares Gedränge von Menschen und Fahrzeugen. Ich treffe immer wieder Bekannte. Die bespannten Trecks von Zoldekow und Schwenz halten kurz vor der Brücke. Vor Abend werden sie kaum auf der Insel Wollin sein.
Ich melde mich bei der Kommandantur des Flughafens, die freudig den gemeldeten Viehtransport begrüßt. Die Tiere sollen vorläufig auf die große Camminer Stadtweide zwischen Dievenow und Heidebrink getrieben werden, wo ein großer Weideschuppen steht. Sie dienen zur Verpflegung des Platzes.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Über das Wasser des Boddens hinweg sieht man das brennende Cammin, das hart umkämpft wird.
Mit Geschrei und Gebrüll wird jetzt die Viehherde über die Brücke getrieben. Fluchend müssen Treckfahrzeuge warten, bis alle Tiere herüber sind. Dann setzt wieder der stetige Strom von Fahrzeugen ein. Alles drängt und hastet nach Westen über die Straße nach Heidebrink-Kolzow. Wie mag es in Swinemünde aussehen? Dort ist seit gestern eine Schiffsbrücke über die Swine in Betrieb. Die kleinen Fähren können nur einen Bruchteil der Fahrzeuge herüberbringen und Tausende von Fahrzeugen stauen sich in Ostswine.
Meine Aufgabe, den Viehtransport nach Dievenow zu bringen, habe ich erfüllt. Die Volkssturmmänner sollen sich jetzt auf Befehl der Bataillonsführung ihren Trecks anschließen. Wir erwarten daher im Flughafen Dievenow unsere bespannten Trecks, um mit ihnen in „ein unbekanntes Elend“ nach Westen zu ziehen. Die Nacht ist hereingebrochen, eine gespenstische Nacht voller Unruhe und Kampflärm.
Jetzt kommen aus der Dunkelheit die ersten Fahrzeuge unseres Zoldekower Trecks in Sicht. Ich lasse halten, füttern, tränken und sammeln. Die durchfrorenen Menschen finden Unterkunft in der warmen Konzerthalle des Flughafens, die an 3.000 Menschen fasst. Dort sitzen und liegen Tausende Flüchtlinge, froh im Warmen zu sein. An unserem Tisch sitzen zwei Frauen mit Säuglingen. Sie haben im Krankenhaus in Treptow vor fünf Tagen entbunden und sind beim Anrücken der Russen mit den Kindern auf dem Arm zu Fuß am Strand entlang geflüchtet. Gerettet haben sie nur ihre Kinder. Milch wird für die Ausgehungerten beschafft, Windeln und warme Decken zur Verfügung gestellt. Ich melde mich bei einem Offizier der Wache. Er sorgt dafür, dass die Mütter mit einem Wehrmachtsfahrzeug in Sicherheit gebracht werden.
Die Wagen unseres Zoldekower Trecks haben sich inzwischen gesammelt. Es fehlt nur ein Wagen mit dem russischen Melkerpersonal, auf dem sich u. a. auch unsere Büroeinrichtung befindet. Haben sie sich seitwärts in die Büsche geschlagen, ihren anrückenden Truppen entgegen? Eine Stunde wollen wir noch warten. Dann müssen wir weiter.
Von Cammin kommen Flüchtlinge auf kleinen Booten über den Bodden herüber. Es wird immer noch gekämpft. 24 russische Panzer sollen abgeschossen worden sein. Die Dammbrücke über den Brenkenhofkanal ist gesprengt. Vor überraschenden Panzerangriffen ist die nördliche Treckstraße sicher. Hoffentlich hält sich die Besatzung der Insel Gristow!
Unsere Ruhepause ist abgelaufen. Wir trecken weiter in Richtung Heidebrink-Kolzow-Misdroy. Es geht zunächst ohne Aufenthalt und Stockung weiter. Ich fahre mit dem Wagen voraus. Von Misdroy aus wird die Straße immer voller von Trecks und Wehrmachtskolonnen. Dazwischen schieben sich Tausende von Flüchtlingen zu Fuß, die auf kleinen Handwagen und Kinderwagen ihre gerettete Habe mit sich führen. Plötzlich sitze ich eingekeilt zwischen einem Treck, der die Straße sperrt, und einer Lastwagenkolonne, die von hinten nachschiebt. Sobald sich ein Loch zeigt, versuche ich mich durchzuwinden. Plötzlich werde ich langsam, aber sicher von einem schweren Wehrmachtswagen in einen vor mir haltenden Treckwagen geschoben. Es gibt einen starken Ruck! Der Motor bleibt stehen. Der Kühler ist eingedrückt und die Kühlerschraube hat sich in den Kühler festgefressen. Aus!
Es dauert stundenlang, bis es vorne Luft gibt und die Treckwagen wieder weiter rollen. Der Wehrmachtswagen nimmt mich im Schlepp mit. Es geht an haltenden Trecks vorbei. Der Morgen dämmert herein.
Im Walde kurz vor Misdroy fahren wir an unserem Motortreck vorbei, der in eine haltende Kolonne eingekeilt ist. Beim nächsten Halt hänge ich mich ab und gehe ein Stück zurück zu unserem Treck, auf dem Frauen und Kinder eine unruhige Nacht verbracht haben. Die Freude, dass alles munter und gesund ist, ist groß. Ich bekomme heiße Hühnersuppe und Brot. Da ich seit 16 Stunden nichts gegessen habe, schmeckt das Frühstück gut. Der Treck hatte eine Gummipanne, die inzwischen dank der tatkräftigen Mithilfe von Bärbel von der Meden behoben wurde. Es kann jetzt wieder weitergehen. Ich will meinen Pkw an unseren Gummitreck anhängen.
Langsam kommen die Häuser von Misdroy in Sicht, ruckweise geht es weiter. Auf dem Markt kommt weinend eine junge Frau auf uns zu. Sie trägt auf dem linken Arm einen Säugling, an der rechten Hand ein zweijähriges Mädchen. Sie bittet uns händeringend, sie mit bis Swinemünde zu nehmen. In der Nacht ist die Unglückliche mit den beiden Kindern und nur ganz wenigen Habseligkeiten zu Fuß aus dem brennenden Cammin geflüchtet und die ganze Nacht hindurchgewandert. Wir rücken noch enger zusammen und nehmen die armen Menschen mit.
Es geht wieder ein Stück weiter, aus Misdroy heraus. Ich sitze meistens bei Kurt, dem 15jährigen Treckerfahrer auf dem „Stock“-Schlepper. Jede kleine Lücke in der Kolonne vor uns muss ausgenutzt werden, jede Kriegslist ist erlaubt. Wenn es geht, hängen wir uns an Wehrmachtskolonnen an, die bevorzugt durchgeschleust werden.
So kommen wir gegen Mittag auf die große Bäderstraße, die Wollin mit Swinemünde verbindet und auf die unsere Straße bei Liebeseele stößt. Hier ist endgültig alles verstopft. Ein Verkehrsposten leitet unseren Zug auf eine freie Stelle vor dem Forsthaus Liebeseele. Hier müssen wir warten. In mehreren Reihen stehen vor uns auf der Straße die Treckfahrzeuge nebeneinander. So soll es bis Swinemünde aussehen, 9 km und 16.000 Treckfahrzeuge liegen vor uns auf der Straße. Die Schiffsbrücke kann nur bei Dunkelheit befahren werden, da sie tagsüber ausgefahren wird, um den Schiffsverkehr auf der Oder nicht zu behindern.
Die Straße von Wollin bis Liebeseele ist ebenfalls von Fahrzeugen und Flüchtlingen verstopft. Wollin selbst soll brennen, die Brücke über die Dievenow gesprengt sein. Bei Porlowkrug haben russische Panzerkolonnen viele Trecks überrollt und aufgerieben, darunter die Trecks aus Benz und Schnatow. Versprengte von diesen Trecks, die sich zu Fuß durchschlagen, bringen uns diese Meldung. Mit zwei anderen Damen kommt zu Fuß die alte Gräfin von Flemming aus Schnatow bei uns an. Sie hat nur einen Apfel gerettet, den sie in der Hand trägt. Wir freuen uns, dass unser Küchenwagen sie erfrischen kann.
Ich mache mich zu Fuß nach vorne auf den Weg, um zu erkunden, wie es dort aussieht und wann wir dort Aussicht haben, weiter zu kommen. Zwischen Treckfahrzeugen halten Kolonnen der Wehrmacht, lettische Freiwillige, Wlassow-Formationen, zurückgeführte Kriegsgefangene, Versprengte.