Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern. Jürgen Ruszkowski

Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern - Jürgen Ruszkowski


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die am Boden lagen. Alles stand auf und stürmte hinaus. Voller Entsetzen sahen wir in der Ebene, Henkenhagen lag etwas erhöht, dass überall brennende Flecken waren! „Das sind unsere Dörfer, da, unser Dorf steht in Flammen“, so hörte man um sich herum die Leute schreien. Es war furchtbar! Ich dachte an die zurückgebliebenen armen Menschen in Schulzenhagen. Ein Grauen beschlich mich.

      Im Morgengrauen wurde ein Zug nach Kolberg eingesetzt. Dort mussten wir alle das Bahnhofsgebäude verlassen. Über Tote hinweg, die in der Bahnhofshalle lagen, liefen wir hinaus zu einer in der Nähe des Bahnhofs gelegenen Gaststätte. NSV-Schwestern reichten uns warme Getränke, und meine Mutter wollte uns gerade das zweifach übereinander gezogene Zeug ausziehen, da hieß es plötzlich: Alle schnell wieder zum Bahnhof! Es fährt noch ein Zug in Richtung Westen, dann wird Kolberg zur Festung erklärt. So schnell wir konnten, eilten wir, schon unter Beschuss von See her, zum Bahnhof zurück. Dort stand tatsächlich ein Zug bereit. Aber was für ein Zug! Er bestand nur aus dachlosen Wagen, ganz vorne, gleich hinter der Lok, ein Personenwaggon. In diesen durften nur Schwangere und Mütter mit ganz kleinen Kindern einsteigen. Meine Mutter kletterte mit uns in einen der Wagen, und es dauerte nur wenige Minuten, da setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr aus Kolberg hinaus. Der Wagen, in dem wir kauerten, war ganz voller Menschen. Man konnte sich gerade etwas hinsetzen, aber weder hinlegen oder gar umhergehen.

      Nun begann eine fast endlose Fahrt. Immer wieder stand der Zug stundenlang still, es schneite auf uns herab, es fror nachts, und uns war entsetzlich kalt. In der Ecke des Waggons stand ein leerer Kinderwagen, in ihn stopfte meine Mutter unseren Bruder Klaus. Er lag zwar ganz gekrümmt darin, aber die Kissen, die wir auf die Flucht mitgenommen hatten, hielten ihn warm. Hinter einer hochgehaltenen Decke musste man auf einem Eimer sein kleines oder großes Geschäft machen. Der Inhalt des Eimers wurde einfach über die Wände nach draußen geschüttet. Es waren ganz schlimme Zustände!

      Das Wenige, was wir zum Essen mitgenommen hatten, war bald all und es kam der schlimme Durst! Die größeren Jungen, die in unserem Waggon waren, kletterten manchmal hinaus, wenn der Zug wieder stundenlang stillstand. Das war sehr riskant, niemand wusste, wann es weiterging. Und doch kamen sie mit Wasser und manchmal sogar mit Milch wieder bei uns an: Wie ein Wunder war es, dass wir keinen der Jungen verloren haben. Die Kinder bekamen dann alle etwas Milch, und etwas wurde noch aufgehoben. Der Rest war dann am Morgen zu Eis gefroren, woran wir nur lutschen konnten.

      Je näher wir nach Stettin kamen, desto gefährlicher wurde es für uns. Über unseren Köpfen tobten regelrechte Luftkämpfe. Tiefflieger schossen auf unseren Zug herab, und mehr als einmal hatte ich mich in diesen Tagen aufgegeben! Den Kopf gegen die Waggonwände gepresst, die Augen geschlossen, so wartete ich, dass der Tod käme. Aber manchmal täuschten wir uns auch, glaubten, wir würden angegriffen, aber die Tieffliegerangriffe und Bombenabwürfe galten der in unserer Nähe vorbeiführenden Straße. Dort staute sich das Militär auf dem Rückzug. Bei einem der Angriffe gerieten die beiden letzten Waggons unseres Zuges in Brand. Sie wurden schnell abgekoppelt. Ob es dabei Tote und Verletzte gab, war für uns nicht zu erfahren.

      In der Nacht setzten die feindlichen Flieger sogenannte Christbäume über unseren Köpfen ab, Markierungen für die folgenden Angriffe. Inzwischen war im Nachbarwaggon ein alter Mann gestorben. Seine Angehörigen wollten ihn nicht zurücklassen und banden ihn mit Stricken außen an den Waggon. Es war schaurig!

      Für meine Mutter stand nun fest, dass sie diesen schrecklichen Zug in Stettin verlassen musste. Sie wollte mit uns zu Tante Grete, die noch in ihrer Wohnung in Braunsfelde war.

      Am siebten Tag unserer Flucht erreichten wir morgens Stettin. Langsam fuhr der Zug über die Oderbrücke. Soldaten bewachten die an der Brücke befestigten Sprengladungen. Wir standen alle bereit, um, wenn der Zug hielt, irgendwie herauszukommen. Die jungen Burschen wollten versuchen, die Verriegelung außen aufzumachen. Der Zug wurde langsam und langsamer. Wir fuhren in den Hauptbahnhof ein. Militär und SA-Leute bevölkerten den Bahnsteig. Als die den am Waggon hängenden Toten sahen, drehten sie sich mit dem Rücken zum Zug. Wir warteten, dass der Zug halten würde – da heulten die Sirenen: Fliegeralarm! Der Zug nahm wieder Fahrt auf und verließ den Bahnhof und Stettin. Nun fuhr der Zug stetig weiter. An den Ortsnamen erkannten die Erwachsenen: Es ging in Richtung Greifswald. „Dort steigen wir auf alle Fälle aus“, sagte meine Mutter, „von dort schlagen wir uns nach Rügen durch.“ Mir war inzwischen alles egal, hatte ich doch starke Schmerzen am linken Fuß, konnte die Zehen nicht mehr bewegen.

      Als wir in Greifswald ankamen, war wieder Militär auf dem Bahnsteig. Keiner durfte den Zug verlassen, aber wir wurden erstmals mit warmen Getränken und belegten Broten versorgt. Dann ging die Fahrt weiter. Stunden später, es war immer noch der siebte Tag unserer Flucht, erreichten wir einen Ort mit dem Namen Grevesmühlen.

      Hier wurden wir offenbar schon erwartet. Auf dem Bahnsteig standen viele Hitlerjungen in Uniform mit Handwagen bereit, um uns und unser Gepäck in eine Schule zu bringen. Mich durften sie gleich mit aufladen, konnte ich doch keinen einzigen Schritt mehr gehen.

      In der Schule, in der man uns unser Lager auf Stroh angewiesen hatte, stellten wir fest, dass eine Familie aus Schulzenhagen mit dabei war, eine Frau mit ihren zwei 15- und 11jährigen Jungen. Die Frau war zusammen mit meiner Mutter zum Ausheben der Panzergräben eingesetzt gewesen. Es waren auch Evakuierte aus Stettin dabei. Nun gab es wenigstens einige bekannte Gesichter in der Fremde!

      Erst einmal kümmerte man sich um meinen Fuß. Der Schuh wurde aufgeschnitten, auch die zwei Strümpfe. Darunter kam ein entsetzlicher Anblick zum Vorschein! Die Zehen waren eine aufgequollene, weiße, wabbelige Masse! Nun wurde ich schnell zu einem in der Nähe wohnenden Arzt transportiert. Als der die Zehen sah, sagte er nur ein Wort: „Amputieren!“ Das nahm meine Mutter aber nicht hin, sondern mit ungeahnter Energie nahm sie mich wieder mit zur Schule. Am selben Tag wurden wir in der Siedlung am Tannenberg zur Familie Tanger in ein Privathaus eingewiesen. Dort legte man mich erst einmal auf das Sofa der Familie in die Wohnküche. Gegen Abend kamen zwei Krankenschwestern, die auch bei Familie Tanger einquartiert waren, von ihrem Dienst im Notlazarett nach Hause. Als erstes untersuchten sie meinen Fuß und kamen mit einer großen Tube Lebertransalbe wieder, womit sie die Zehen behandelten. Nun wurde der Fuß täglich neu verbunden, und tatsächlich fühlte ich nach einiger Zeit wieder Leben in den fast abgestorbenen Zehen: Es kribbelte und juckte! Einen großen Schmerz musste ich noch ertragen, als eines Tages mit einer strammgezogenen Binde die Zehen neu eingeteilt wurden. Aber danach ging es bergauf! Anfang Mai, als sich der endgültige Zusammenbruch des Dritten Reiches ankündigte, konnte ich das erste Mal wieder nach draußen in den Garten gehen. Ein glücklicher Zufall hatte mir meine Zehen erhalten und mich vor einer lebenslangen Behinderung bewahrt!

      In dem kleinen Siedlungshaus war jedes Zimmer belegt. Meine Mutter hatte für sich und drei Kinder eine kleine Kammer zugewiesen bekommen. Unter einer Dachschräge standen zwei Betten hintereinander, in denen wir zu viert schliefen. Zur Familie Tanger gehörten zwei Jungen, fünfzehneinhalb und zwölf Jahre alt. Der Ältere arbeitete bereits und erzählte nach Feierabend von den neuesten Parolen, nun werde nämlich die Wunderwaffe eingesetzt. Wir warteten jedoch vergeblich darauf. Dafür kamen nun täglich mehr Soldaten auf dem Rückzug durch Grevesmühlen und mit ihnen die Tiefflieger. Ich war gerade mit Horst Tanger im Garten, da tauchten plötzlich die Flugzeuge hinter den Baumwipfeln des nahen Waldes auf. Wir schafften es nicht mehr bis zum rettenden Haus. Flach auf der Erde liegend, warteten wir den Angriff ab. Er galt aber dem Militär auf der Straße. Anschließend rannten wir schnell in das Haus. Die anderen Bewohner saßen alle auf der Kellertreppe. Nun fielen auch noch Bomben. Das Eingemachte klirrte in den Regalen, und wir hatten mal wieder Todesangst! Aber es ging alles glimpflich ab.

      Dann hörte man Gewehrgeknatter. Die Straße war menschenleer! Als wir vorsichtig aus dem Fenster schauten, wehten hier und da weiße Fahnen aus den Fenstern, es waren meist Tischtücher und Bettlaken. Es dauerte aber noch Stunden, da sahen wir plötzlich die Amerikaner. Ganz lässig saßen sie auf ihren Jeeps und schauten


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