Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern. Jürgen Ruszkowski
die Straße. Dazwischen hin und wieder ein frischer Hügel aufgeworfen, mit einem einfachen Kreuz aus Birkenholz. Hier sind Menschen, meist alte Leute oder kleine Kinder auf der Landstraße gestorben und verdorben.
Mein Plan steht fest. Sobald die Schiffsbrücke wieder geöffnet ist und es vor uns Luft gibt, will ich versuchen, mit unserem Treck an den haltenden Kolonnen vorbei nach vorn zu kommen.
Als ich wieder nach Liebeseele zurückkehre, bricht die Dämmerung herein. Wir bereiten in aller Stille unseren baldigen Abmarsch vor. Dann gehe ich vor dem Trecker her, und wir kommen langsam, schrittweise weiter. Es geht oft haarscharf an den Straßenrändern und Böschungen vorbei. Die Straße ist vereist. Zwischendurch gibt es stundenlangen Aufenthalt. Kalt und dunkel ist diese zweite Nacht. Ab und zu weint ein Kind. Die Wachtfeuer beleuchten Szenen von wilder Romantik. Viele Fahrzeuge halten am Rande. Die Fahrer sind eingeschlafen. So kommt es, dass wir oft kilometerweit die Straße frei vor uns finden und ein gut Stück vorankommen. Es ist eine lange, kalte Nacht, aber auch sie geht zu Ende. Gegen Morgen sind wir in Pritter, etwa 5 km vor Ostswine. Die Schiffsbrücke war die ganze Nacht hindurch geöffnet, und es hat Luft gegeben. Jetzt wird sie wieder ausgefahren, und ein neuer Rückstau setzt ein. Wir sind jetzt wieder in eine dicke Kolonne eingereiht, und es geht nur schrittweise voran. Immer wieder kommen uns Truppen und motorisierte Artillerie entgegen, die bei Wollin und Dievenow eingesetzt werden sollen. Man spricht von einem bevorstehenden Gegenangriff.
Wenn wir Glück haben, treffen wir noch heute in Ostswine ein und können vielleicht noch mit einer Fähre übersetzen. Ich mache wieder einen Erkundungsgang nach vorn. Fräulein Bärbel passt auf, dass unser Treck nicht abgehängt und jede Möglichkeit, nach vorn zu kommen, ausgenutzt wird. Die schwere Festungsflak in Swinemünde schießt pausenlos Sperre. Ich stehe nach einer Stunde am Hafen. Der Übersetzverkehr mit zwei kleinen Fähren geht langsam vonstatten. Wir werden heute kaum damit rechnen können, dass wir übersetzen können. Ich bemühe mich daher um ein warmes Nachtquartier für die Frauen und Kinder. Es wird mir von der Marine eines in Aussicht gestellt. Ich gehe zurück, unserem Lastzug entgegen.
Um 16 Uhr trifft unser Lastzug in Ostswine ein. Hier werden wir durch einen Verkehrsposten in eine Seitenstraße geleitet, wo wir, festgekeilt in eine andere Kolonne, stehen bleiben müssen. Es wird also wieder nichts mit dem warmen Nachtquartier. Vielleicht kommen wir in der Nacht noch über die Fähre.
Ich will noch allein mit der Fähre übersetzen und für den Schwenzer Motortreck Brennstoff organisieren für die Weiterfahrt. Leider hat der Russe, wie ich erst jetzt erfahre, den Raupenschlepper, der den Brennstoff nachführen sollte, beschossen. Ich will gleichzeitig versuchen, in einem warmen Raum in der Stadt einige Stunden zu schlafen, denn ich fühle, wie meine Kräfte nachlassen.
Ich treffe im Büro der landwirtschaftlichen Genossenschaft Bekannte und Freunde. Die Brennstoff-Frage wird gelöst. Ein Hotelzimmer ist für mich bereitgestellt, wo ich, ohne Stiefel und Kleider auszuziehen, auf das Bett sinke und augenblicklich in festem Schlaf liege.
Durch eine gewaltige Detonation werde ich im Bett hochgerüttelt und bin wieder munter. Es ist 4 Uhr früh. Ich eile sofort wieder zur Fähre und fahre nach Ostswine herüber, um unseren Lastzug zu suchen. Stundenlang laufe ich in der Dunkelheit an langen Reihen von Fahrzeugen vorüber, ohne ihn zu finden. Ein Schutzmann sagt mir, dass landwirtschaftliche Schlepper in der Nacht über die Brücke geleitet worden seien. Ich eile zur Brücke. Keine Spur von unseren Wagen! Zur Fähre zurück! Nichts! Noch einmal zurück nach Swinemünde! Keine Spur!
Ein Rossschlächter, der von Usedom kranke Pferde abholen soll, nimmt mich mit in Richtung Usedom. Es wäre möglich, dass der Lastzug in der Nacht über die Brücke gezogen und in Richtung Usedom weitergetreckt ist. Wir fahren an vielen Treckfahrzeugen vorbei. Unser Lastzug ist nicht darunter. Ich fahre nach Swinemünde zurück und treffe plötzlich auf unser Fahrzeug, das gerade in den Hof der Genossenschaft einbiegt. Eben erst sind sie mit der Fähre übergesetzt. Ich habe die Wagen in der Dunkelheit nicht gesehen.
Die Frauen und Kinder waschen sich und schlafen dann in einem warmen Zimmer auf Stroh, die Frau aus Cammin, die uns von Misdroy aus begleitet hat, wird vom Roten Kreuz aufgenommen. Ich nehme Verbindung mit dem Schwenzer Motortreck und den beiden bespannten Trecks auf, die noch östlich Pritter halten. Marschbefehle für den Weitertreck nach Erdmannshöhe bei Demmin werden ausgestellt.
Es wird von einem bevorstehenden Fliegerangriff auf Swinemünde gesprochen. Ich will noch vor Dunkelheit aus der Stadt heraus mit unseren Wagen, so gern ich allen die verdiente Ruhe gegönnt hätte. Um 15 Uhr ist also wieder einmal Abmarsch in Richtung Usedom. Die Straße ist bergig, oft muss ein Wagen abgehängt werden, den der Trecker dann nachholen muss. Beim Flugplatz Garz will an einem steilen Berg plötzlich der kleine Stockschlepper nicht mehr ziehen. Die Kupplung rutscht! Verflucht! Das fehlt noch! Ein Wehrmachtsfahrzeug schleppt die Wagen zu einem Gehöft an der Straße. Durch eine Werkstattkompagnie wird mein Pkw behelfsmäßig wieder hergestellt. Ich muss nach Swinemünde zurück, um den tüchtigen Werkmeister Georg Lenz, der sich beim Schwenzer Motortreck befindet, zu holen und nach Möglichkeit eine neue Kupplung zum „Stock“ beschaffen.
Frauen und Kinder finden liebevolle Aufnahme in dem Gehöft. Ich fahre mit Fräulein Bärbel nach Swinemünde. Eine Kupplung ist nicht zu beschaffen. Vielleicht in Usedom! Auch dort ist nichts zu machen! Also wieder zurück nach Garz! Dort ist inzwischen Lenz eingetroffen und hat bereits die alte Kupplung ausgebaut. Wir fahren nun gemeinsam zum Flugplatz Garz. Und siehe da! Wir bekommen von der Luftwaffe eine neue Kupplung! Unentgeltlich!
Am Nachmittag kommt ein Paatziger Wagen vorbei. Wir erfahren, dass in letzter Minute Herr von Flemming und sein Bruder aus Paatzig herausgekommen sind. Die beiden Brüder von Flemming werden morgen Vormittag hier in Garz erwartet. Da wir noch auf den zweiten Treckerzug des Zoldekower Motortrecks warten wollen, übernachten wir noch einmal bei den freundlichen Leuten in Garz. Wir wollen dann am nächsten Vormittag den Holzbulldog und Herrn von Flemming erwarten und dann weiterziehen über Usedom nach Demmin, wo in Erdmannshöhe bei Bekannten und Landsleuten eine Zwischenstation und Sammelpunkt für alle Treckwagen verabredet ist. Am nächsten Vormittag treffe ich mich mit Herrn von Flemming. Er hat wenig gerettet und muss nun mit seinem kranken Bruder flüchten wie Hunderttausende andere. Er billigt meinen Plan, mit den Zoldekower Leuten und Gespannen über Demmin westwärts über die Elbe bis in die Lüneburger Heide zu ziehen. Wir nehmen Abschied. Ich gebe den Abmarschbefehl, und es geht flott westwärts nach Usedom. In Usedom kurze Rast. Dann passieren wir gegen Abend die große Peenebrücke und halten bei Einbruch der Nacht auf der Straße in einem windgeschützten Waldstück. Hier lodern wieder viele Wachfeuer, und Menschen und Tiere drängen sich um die Wärme. Wieder eine Nacht auf der Landstraße! Es ist bitterkalt. Ich gebe daher um 2 Uhr in der Frühe Abmarschbefehl und beleuchte mit einer kleinen Laterne vorausgehend dem langsam fahrenden Trecker den glatten Weg. Um 5 Uhr sind wir in Anklam. Hier sind alle Straßen und der Markt mit Fahrzeugen verstopft. Kurzer Aufenthalt! Dann geht es bei Hellwerden weiter nach Jarmen. Die Straßen werden besser und die Landschaft wird ebener. Wir können ein schärferes Tempo vorlegen und treffen gegen 12 Uhr in Erdmannshöhe ein, wo gute Freunde uns begrüßen und gastfreundlich aufnehmen.
Seit einer Woche essen wir zum ersten Male wieder an einem gedeckten Tisch und schlafen dann wie tot in richtigen Betten. Nachmittags kommt von Usedom ein Telefonanruf: Unser Holzgasschlepper liegt auf offener Straße fest mit gebrochener Schwungscheibe. An eine Reparatur ist nicht zu denken. Wir müssen ihn abschleppen. Aber der 15jährige Kurt Potratz muss erst eine Nacht schlafen. Montag früh fährt er mit dem Stockschlepper los und kommt um 12 Uhr in der Nacht mit den beiden Wagen und dem defekten Schlepper in Erdmannshöhe wieder an.
Inzwischen ist auch der Schwenzer Gummitreck, bestehend aus zwei Gummischleppern und vier Gummiwagen in Erdmannshöhe angekommen. Wir hängen hinter den Famoschlepper jetzt drei Gummiwagen, hinter den Stock und den Normag je zwei; ein Wagen wird mit Pferden bespannt. Der Holzgasbulldog muss in Erdmannshöhe stehen bleiben, da an eine Reparatur wegen der Unmöglichkeit Ersatzteile zu beschaffen, nicht zu denken ist.
Am Nachmittag donnern über den niedrigen Wolken in Richtung Osten schwere Bomberverbände über uns hinweg. Der feindliche Angriff