Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern. Jürgen Ruszkowski
der Abwehr der mit einer Übermacht von 7:1 bei Panzern und 20:1 bei der Artillerie, insgesamt im Verhältnis 11:1 angreifenden sowjetischen Armeen als militärisch völlig sinnlos erweisen sollten. (Siehe Jürgen Thorwald: „Die große Flucht / Es begann an der Weichsel“)
Gerd Brehm (* 1929) berichtet:
Der Einsatz begann gleich in unseren ersten Sommerferientagen 1944, nachdem wir gerade die Prüfungen zur Mittleren Reife hinter uns hatten. Für die Organisation im Bereich Gollnow war der Parteiortsgruppenleiter Fraude verantwortlich. Zusammen mit meinen besten Kameraden, Karlheinz Köhler und Horst Schwarz, Geburtsjahrgänge 1928, beide leben heute in Kanada, bestiegen wir mit unseren von daheim mitgebrachten Spaten und Marschgepäck den in Gollnow eingesetzten Eisenbahnzug in Richtung Osten. Das Ziel war uns noch unbekannt.
Nachdem wir etwa neun Stunden unterwegs waren, stiegen wir auf dem Bahnhof Schönau aus, um dann zum 4 km entfernten Gut Schönau zu marschieren, wo eine riesige Scheune als Lager für uns dienen sollte. Hier trafen wir weitere Schulfreunde, wie die Zwillingsbrüder Götz, Hermann Goetsch aus Röhrchen und Karl Herrmann, den Sohn unseres Direktors und Lateinlehrers, sowie viele andere Bekannte aus der Hitlerjugend von Christinenberg. Wir bezogen die mit Stroh ausgelegte Scheune. Jeder baute sich mit Hilfe seines Gepäcks sein eigenes Strohnest auf dem Erdboden mit Gängen dazwischen. Zuerst waren wir in der Scheune 170 Mann, später sogar ca. 500. Geführt wurde unser Lager durch einen HJ-Bannführer.
Etwa die Hälfte von uns wurde damit beschäftigt, die Bäume, die den künftig auszuhebenden Gräben im Wege standen, zu fällen und die Stubben zu roden. Dann folgten jeweils 500 Mädchen und Frauen, die die Gräben ausschaufelten. Die andere Hälfte der Jungen hatte anschließend die Grabenbefestigungen durch Faschinenbau zu erledigen. Die Faschinen dienten dazu, dass die Gräben nicht wieder zusammenfielen. In dieser Truppe hatten Horst Schwarz, Karlheinz Köhler und ich als 3-Mann-Gruppe einen solchen Ausbau-Auftrag. Die Arbeiten wurden generell durch Soldaten und Forstschutzkommandos geleitet und beaufsichtigt. Unsere Tätigkeit wurde durch uniformierte SA-Leute überwacht. Alles erfolgte von Anfang bis zum Ende in Handarbeit. Es gab keine Maschinen. Die Schützengräben waren gut mannstief und -breit und verliefen im 10-m-Zickzack mit runden Maschinengewehrnestern in kurzen Abständen. Eine bereits vorhandene Bunkerlinie wurde durch die von uns ausgehobenen Gräben miteinander verbunden. Die Wehrmacht versah diese Bunker inzwischen mit Waffen verschiedenster Art. Von einem Teil der Dienstverpflichteten wurden Panzergräben ausgehoben. Diese mussten wegen der Tiefe von etwa 4,5 m und 1 m Sohlenbreite von den Frauen in mehreren Etappen ausgeschaufelt werden, weil es nicht möglich war, die Erde aus solcher Tiefe mit einem Spatenhieb hinauszuwerfen.
Der übliche Tagesablauf: 5 Uhr Wecken, Aufstehen, Waschen, Kaffeeempfang, Morgenappell nach Antreten vor der Hakenkreuzfahne mit Ausgabe der jeweiligen Tagesparole, die sich jeder genau für den ganzen Tag zu merken hatte. 7 Uhr Abmarsch zur Arbeit an den Gräben. Weil die von uns geschaffenen Gräben immer länger wurden, verlängerte sich unsere Anmarschzeit von anfänglich eine auf anderthalb und schließlich zwei Stunden. Die tägliche Arbeitszeit verlängerte sich ohne Wegzeit ebenfalls von anfangs 6 auf später 7 Stunden. Eine Zeitlang wurden wir auch auf Leiterwagen zur Arbeit und wieder zurück gefahren, weil viele von uns fußkrank wurden. Schuhe gab es nur gegen Bezugschein, wenn überhaupt. Mein Vater hatte mir sein Paar mir um einige Nummern zu große Pirschstiefel gegeben, die ich in den Spitzen mit Papier ausgestopft hatte. Oft schwamm abends bei der Rückkehr ins Lager das Blut in diesen wasserdichten Schuhen, so kaputt gescheuert waren die Füße. Man wagte nicht, sich zu beklagen, denn nach den Worten unseres Führers Adolf Hitler mussten Hitlerjungen ja „hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie Windhunde“ sein. Die Wagen mussten ringsum wohnende Landwirte mitsamt Pferden stellen. In den ersten Wochen wurden wir auf den täglichen Rückwegen mit einem Umweg zu einem in Schönau gelegenen kleinen See zum Baden und Waschen befohlen. Später jedoch, als in unserem Lager wegen mangelhafter hygienischer Verhältnisse und schlechter Verpflegung Ruhr-, Diphtherie- und Scharlacherkrankungen auftraten, wurde der See für uns zum Baden wegen der erhöhten Infektionsgefahr verboten.
Wir mussten täglich arbeiten und hatten nur jeden 3. Sonntag frei. Nach der Rückkehr ins Lager am Nachmittag mussten wir nach dem Waschen bei der Austeilung der warmen Mahlzeit anstehen. Oft mussten wir dann noch zu neuen Appellen antreten und in einzelnen Gruppen eine Thingstätte mit halbrunden geschaufelten Sitzgräben, einer Findlingsgruppe mit Fahnenstange und HJ-Emblemen herrichten. Auch einen Kleinkaliber- und Pistolenschießstand für tägliche Schießübungen hatten wir in der Freizeit zu bauen. Ferner gab es in den Abendstunden Musterungen und Werbeveranstaltungen durch Wehrmachts- und SS-Angehörige. Selten war es uns mal vergönnt, einige Stunden in dem schönen Park des Guts auszuruhen. Von Tag zu Tag wurde das Stroh in unserem Scheunenlager immer mehr zu Staub zertreten. Dieser Staub löste bei mir immer mehr Atembeschwerden aus, so dass ich, sofern es die Witterung erlaubte, nachts unter freiem Himmel in einem nahen Wäldchen hinter unserer Thingstätte schlief. Karlheinz Köhler resignierte: „Hier in diesem Lager wasche ich mir nie die Füße!“
In den ersten drei Wochen durfte niemand nach Hause schreiben. Wir sollten Feldpostnummern bekommen, damit die neu entstehenden Stellungen nicht durch Angabe des Aufenthaltsortes bekannt werden konnten. Wir bekamen jedoch keine Feldpostnummern und durften jetzt unter folgender Absenderadresse an die Eltern schreiben: HJ-Inspektion D, Platz 16 (VIII), Baldenburg in Pommern. Weil aber gerade in den ersten Wochen die Verpflegung sehr schlecht und mangelhaft war, griffen wir unterwegs zu rohen Zuckerrüben und Kartoffeln, die wir an den Schützengräben rösteten. Zur Nacht-Lagerwache, die alle zwei Stunden abgelöst wurde, meldeten wir uns gerne, weil wir dann im Garten des Gutes Obst klauen konnten. Nach der Briefflut trudelte etwa 10 Tage später eine Paketflut von den Eltern im Lager ein. Obwohl jeder von uns von den Eltern beim zuständigen Bürgermeister mit dem Tage der Einberufung vom Lebensmittelkartenbezug abgemeldet werden musste, hatten sich unsere Familienangehörigen Kuchen, Brot, Wurst und Obst von ihren nicht gerade üppig bemessenen Rationen abgespart. Ganze Leiterwagen voller Pakete trafen dann jeden Tag ein. Fast jeder überfraß sich erst einmal, wie auch ich: In der einen Hand den Kuchen, in der anderen die Wurst, zwischendurch einen Apfel. So hockte jeder über seinem Paket, dabei auch noch den beiliegenden Brief lesend. Ich habe mich anschließend so übergeben müssen, dass ich mir geschworen habe, mich nie wieder zu überfressen. Die Kartons schickten wir dann mit schmutziger Kleidung wieder zurück.
Die extreme Hitlerdiktatur verlangte von uns die rücksichtslose Preisgabe aller unserer körperlichen Kräfte und unseres persönlichen Eigentums: „Einer für alle!“ Niemand konnte sich dagegen auflehnen. Eine Entlohnung für den Einsatz gab es nicht. Selbst für Brief- und Paketporto mussten uns unsere Eltern Geld schicken. Unsere selbst finanzierten und auf Kleiderkarte beschaffte HJ-Uniformen, die wir wegen der Kälte oft nachts nicht auszogen und darin schliefen, trugen wir bei der Schinderei in den Schützengräben auf. Kaufläden gab es weit und breit nicht. Später kam ein fahrender Bäcker dreimal wöchentlich in das 2 km entfernte Dorf Schönau, bei dem wir mit den von den Eltern geschickten Markenabschnitten etwas zusätzlich zur schmalen Kost kaufen konnten. In dieser für uns monotonen und entbehrungsreichen Zeit drehte sich in unserer Post an die Eltern alles nur ums Essen. Nur wer einen stabilen Koffer hatte, konnte seine Lebensmittelportionen vor Mäusen schützen. Meine Eltern schrieben mir immer wieder Verhaltensmaßregeln, besonders im Hinblick auf die Erhaltung der Gesundheit. Aus ihren Briefen erfuhr ich auch von den verheerenden Bombenangriffen auf Stettin und die Folgen für unser Haus, in dem für aus Stettin evakuierte Landesforstamts- und Holzwirtschaftsamts-Dienststellen Räume requiriert wurden.
Bei den Schanzarbeiten traf ich auch unseren Erdkundelehrer Linemann und viele Mädchen aus Christinenberg.
Es gab immer wieder Gerüchte, der Einsatz dauere nur 14 Tage oder ginge wirklich bald zu Ende, oder wir würden durch andere Hitlerjungen abgelöst. Dann hieß es plötzlich, alle könnten vom 12. bis 17. Oktober nach Hause in Urlaub fahren, zwei Tage würden für An- und Abreise gerechnet und vier Tage als Urlaub! Ein Sonderzug wurde für uns eingesetzt. Weil ich meinen Spaten wegen gänzlich anderer Arbeiten nie gebraucht hatte, nahm ich ihn mit nach Hause. Zu Hause angekommen, musste ich mich mit den inzwischen veränderten Wohnverhältnissen erst vertraut machen. Vom Christinenberger Bürgermeister musste ich mir