Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern. Jürgen Ruszkowski
der letzten Woche vor der Flucht hatte ich Nachtdienst an der Panzersperre, somit bei Tage auch Zeit, die Fahrradanhänger und das Auto zu beladen. Nachts schlief unser Chauffeur zur Bewachung auf einer Matratze neben unseren Fluchtfahrzeugen in der von innen verriegelten Garage, denn es musste stark mit Einbruch durch in Not geratene Flüchtlinge auf der Suche nach Lebensmitteln und Futter für Pferde gerechnet werden.
Am Montag, dem 5. März 1945 mittags, hatten wir das Gefühl, dass die Russen höchstens 10 km entfernt von Pütt waren. Das Telefon ging schon nicht mehr. Der elektrische Strom war für uns schon unterbrochen. Wir wohnten ca. 1 km vom Dorfrand entfernt ganz allein im Walde. Die Eltern beauftragten mich, mit dem Fahrrad noch im Dorf auf Lebensmittelmarken soviel wie möglich einzukaufen, Geld von der Sparkasse abzuheben und beim Bürgermeister eine schriftliche Genehmigung zu holen, damit der französische Kriegsgefangene Capedeville als Chauffeur ohne Bewachung unser Auto auf der Flucht in Richtung Westen fahren darf. Ich erschreckte mich im Dorf sehr darüber, dass ich keinen Zivilisten mehr antraf, sondern nur deutsche Soldaten, die sich in den verlassenen Lebensmittelgeschäften mit Essbarem versahen. Dieses tat ich auch und stopfte beim Bäcker, Fleischer und Kaufmann alle meine Einkaufstaschen voll. Geld erhielt ich auch nicht mehr, desgleichen auch nicht die Bescheinigung. Die Dorfbewohner waren schon alle auf der Flucht und schon längst an Pütt vorbeigezogen, nachdem sie sich in die endlosen Flüchtlingstrecks einreihen mussten. Als ich in die Hauptstraße zu uns einbog, kamen gerade russische Tiefflieger über der Straße entlang, dabei immer in die Trecks hineinschießend. Zuerst schmiss ich mich samt Fahrrad in den Straßengraben, und dann benutzte ich einen Schleichpfad durch eine Schonung nach Pütt zurück.
Vater traf sofort nach meinem Eintreffen mit der Nachricht, dass unser Dorf schon unterwegs sei, die letzten Vorbereitungen. Es war also seit mindestens 3 Wochen ausgehandelt, dass Vater, Harm und ich auf Fahrrädern und Mutter mit Jörg, Kuno und dem Chauffeur in unserem Auto auf die Flucht gehen werden, wenn auch getrennt voneinander. Unsere Devise war, soviel Gepäck wie möglich zu retten. Sieben Personen hätten ja auch ins Auto gepasst, aber die Mitnahme von Gepäck wäre fortgefallen. Vater hatte zwei Landkarten fertiggemacht, eine für uns, eine für Mutter, auf welchen er die für Übernachtungen in Frage kommenden Forsthäuser rot unterstrichen hatte, verteilt über Vorpommern, Mecklenburg und Schleswig-Hostein und Niedersachsen. Auch gab er den Auftrag, dass jeder sich selbst auf jedem zu passierendem Regierungsforstamt, z. B. in Schwerin, Schleswig, Lüneburg persönlich meldet und nach dem anderen dort nachfragt. Mit Verwandten in Oberelsungen bei Kassel, bei Frankfurt/M. und in Stuttgart wegen von dort heranrückender Westfront sobald wie möglich Kontakte aufzunehmen, lautete die Verabredung.
Kurz bevor wir auf dem Pütter Hof startklar waren, erschien plötzlich der Revierförster Schröder von Unterkarlsbach, der auch im Walde wohnend, vergessen worden war, mit seinem vollbeladenen Pkw samt Ehefrau und Hund. Wir freuten uns sehr darüber, dass Mutter nun gute Gesellschaft hatte auf der Flucht, so wie er auch.
Inzwischen war es 17 Uhr geworden. Es lag ca. 10 cm Schnee, und wir hatten ca. minus 10 Grad Frost. Mit erschütterten Blicken verabschiedeten wir uns voneinander an der Grundstücksausfahrt nochmals, es war Montag, der 5. März 1945, 17 Uhr. Dieses Datum vergesse ich nie.
Auch ich ließ den Volkssturm sein wie er war. Es war mir alles egal. An der Panzersperre vor unserem Grundstück angekommen, war kein Bewacher mehr da. Vater, Harm und ich hielten noch mal eine kurze Gedenkpause darüber ab, ob wir noch etwas ganz Wichtiges nachholen müssten. Wir hatten also doch nichts vergessen, und wir reihten uns in den endlosen Flüchtlingstreck ein.
Flucht auf Fahrrädern von Hinterpommern gen Westen
Gerd Brehm (* 1929) berichtet:
Zusammen mit meinem Vater und meinem 1931 geborenen Bruder Harm ging ich also in unserer Männergruppe per Fahrrad auf die Flucht. Unsere Räder mit Anhänger waren hochbeladen und schwergängig. Vater hatte keinen Anhänger, dafür transportierte er außer vielen Gepäckstücken noch zwei Jagdwaffen. Insgesamt transportierten wir pro Rad in Kisten, Koffern, großen Taschen und Rucksäcken mehr als zwei Zentner Gepäck, so dass wir die Räder oft schieben mussten.
Unsere Mutter (*1907) und meine beiden jüngeren Brüder (* 1936, 1939) ging mit unserem kriegsgefangenen französischen Chauffeur in unserem während des Krieges dienstlich zugelassenen Personenkraftwagen in der zweiten Gruppe getrennt auf die Flucht. Das Auto war ebenfalls mit viel Gepäck beladen, zum Teil außen aufgebunden, und es war mit 80 Litern extra für die Flucht aufgesparten Benzins voll betankt und führte Reservekanister mit. Unterwegs, so war es abgesprochen, wollten sich beide Gruppen bei den Forstverwaltungen in Mecklenburg, Schleswig-Holstein, im Hannoverland oder in Hessen melden, um für die andere Gruppe Spuren über das Verbleiben zu hinterlassen. Wir sollten uns erst ein halbes Jahr später wiedersehen.
Unterwegs hatten wir oft Tiefflieger- und Bombenangriffe durch russische, später durch englische oder amerikanische Flugzeuge. Fast jede Nacht mussten wir uns ein anderes Quartier besorgen. Massenquartiere, die oft verlaust waren, mieden wir möglichst. Unsere Verpflegung – alles war seit Kriegsbeginn äußerst knapp und rationiert – musste förmlich erbettelt werden. Das Radeln mit großem Gepäck und den schweren Anhängern verursachte großen Hunger. Ständig musste ich befürchten, unterwegs noch aus dem Treck herausgeholt und zum Wehrdienst verpflichtet zu werden, weil mein Jahrgang jetzt auch schon einberufen wurde. Vater war als Schwerkriegsbeschädigter einigermaßen sicher.
Zur 52. Fluchtnacht bezogen wir am 25. April 1945 in Ahrensbök bei Lübeck zu dritt ein kleines Gaststättenzimmer, in dem wir bis zum 31. Juli 1945 “wohnen” durften, weil Vater dort auf Anweisung der Schleswiger Fortverwaltung einen schwerverwundeten Revierförster vertreten musste.
Kurz vor der Kapitulation rückten hier Anfang Mai die englischen Besatzungstruppen ein. Bei der letztmöglichen Amnestie für Jagdwaffen, die wir immer noch mit uns führten, bekam ich auf Grund meiner guten Englischkenntnisse, als ich meinen Vater zur Abgabe begleitete, vom Besatzungskommandanten ein Angebot, als Dolmetscher bei ihm zu arbeiten. Ich willigte sofort ein. Von nun an hatten wir vorerst immer genug zu essen und erhielten auch englische Zigaretten, die wir als Nichtraucher zum Tausch gegen neue Schuhsohlen oder Fahrradreifen gut gebrauchen konnten.
Am 1. August 1945 setzten wir unsere Vagabundenreise durch Deutschland auf unseren bepackten Fahrrädern in Richtung Südwesten fort, weil wir hofften, bei Verwandten nahe Kassel oder Frankfurt/Main etwas über unsere Mutter und Brüder zu erfahren. Am 4. September 1945 tauchte unsere Mutter völlig unerwartet bei unseren Verwandten in der Nähe von Kassel auf. Sie hatte in Wettmar bei Celle bei einem Forstamt Aufnahme gefunden.
https://sites.google.com/site/zeitzeugen1945/schicksale-1945/1944-pommernwall
Ragnit bei Tilsit 1944/45
Jürgen Aschmotat (†) stammt aus einem alten ostpreußischen Bauerngeschlecht und wurde im August 1940 geboren. Sein Großvater hatte den Hof in dem Ort Ragnit bei Tilsit mit viel Fleiß und Engagement groß gemacht. Der Vater hatte Agrarwissenschaft studiert, den Hof übernommen und eine Rinder- und Trakenerzucht sowie eine riesige Schweinemast mit freiem Auslauf aufgebaut. Seine Mutter war bereits, als er zwei Jahre alt war, an Nierenversagen verstorben. Jürgen verfügt über sehr gute Erinnerungen an seine frühe Kindheit und die dramatischen Ereignisse der letzten Monate des Krieges und Zusammenbruches Deutschlands. „Mein Vater war Bauernführer der Faschisten, begeisterter Luftwaffensoldat und als Nachtjäger eingesetzt. Er war bis zuletzt stolz auf seine „Heldentaten“. Mein Großvater und ich haben ihm immer wieder klarzumachen versucht, dass seine Nazipolitik Schuld daran war, dass der Familie Hof und die Heimat verloren ging. Heute wird das elterliche Anwesen von Kirgisen bewirtschaftet, die, als ich sie vor einigen Jahren besuchte, nicht einmal wussten, dass dort früher Deutsche gelebt hatten. Als